Leseprobe "Der weise Zauberer - Abenteuer im Traumland"
von Mirjam Wyser, mit 13 ganzseitigen Illustrationen von Gabriele Merl
Die ist der zweite Band der Reihe rund um den weisen Zauberer. Die einzelnen Bände können unabhängig voreinander gelesen werden.
Alter: 5 - 12 Jahre, Taschenbuch, 168 Seiten, ISBN: 978-3-96050-241-8
Inhalt
Der weise Zauberer! Nächtlicher Ausflug!
Gute Träume für die Welt
Das verborgene Land
Die Prinzessin der Nacht
Der Vogel im Käfig
Der grüne Waldmann
Der Giftpilz
Das Moor
Der Fährmann
Der Drache
Der alte Turm
Die goldene Messingschale
Der Tempel
Gemeinsam sind wir stark
Die Maus Hugo
Zwei Feen
Der verzauberte Garten
Sieben Bäume
Das Schloss der goldenen Sonne
Wieder zurück
Über die Autorin Mirjam Wyser
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Der weise Zauberer! Nächtlicher Ausflug!
Heute ist ein super Tag. Die Weidezeige hängen tief wie ein Vorhang. Sieben Freunde und Freundinnen sitzen am Ufer eines Flusses und haben das Gefühl, die Luft ist voller Feenstaub. Sie sitzen am Fluss des Vergessens. Dem Fluss zwischen Traum und Wirklichkeit. Es ist Ferienzeit und sie haben eine kleine Zeltstadt aufgebaut. Die fröhliche Schar grinst, kichert und träumt davon, anders zu sein
»Manchmal wünschte ich mir, die Welt wäre ein kleines Bisschen wie im Märchen«, sagt Michelle.
Leonore blinzelt ihr zu: »Ich wünschte, wir hätten eine endlose Reihe von Wünschen frei, die allesamt fähig wären, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Einem Ort, den wir so zauberhaft nur aus Märchen kennen.«
»Jetzt haben wir Ferien, ich wünschte mir, morgen dort drüben am anderen Ufer des Flusses aufzuwachen. Im Zwergenland«, kichert Frederik.
»Ich möchte einmal eine Fee mit einem Zauberstab treffen!«, sagt Fabienne.
»Und ich eine Fee, die auf einem weißen Einhorn reitet«, kichert Laura.
Die drei Jungs lachen. »Typisch Mädchen! Nur Mädchen glauben an Feen.«
»Natürlich glauben wir an Feen. Wir können uns nicht vorstellen, dass man als Kind nicht an Feen glaubt. Durch sie spürt man doch die Seele der Erde. Und die Erde lebt wie du und ich!«, sind die Mädchen überzeugt.
»Ich möchte einmal ein Geist in einem alten Schloss sein. Dort herumschweben und die Leute erschrecken. Oder als Eule in einem alten Turm wohnen und durch die Nacht fliegen«, schwärmt Hendrik.
»Hihi, und ich möchte ein grüner Waldgeist sein und die Sprache der Tiere verstehen«, kichert Raphael.
»Ich möchte ein schönes Mädchen sein, das eine Stadt retten muss«, sagt Leonore.
»Wir sind doch alle Glückskinder und könnten die Welt retten. Mein Wunsch wäre, ein Kranich zu sein und mit den langen dünnen Beinen durchs Moor zu laufen!«, schmunzelt Michelle.
Es entwickelt sich unter den Schwärmern eine unglaubliche verborgene Kraft, die Neues erschaffen könnte. Doch das ahnen sie nicht. Weil das, was sie sich wünschen, ja eigentlich nicht möglich ist, weil es nur im Märchen vorkommt!
Die Ideen und Wünsche werden immer wie vielfältiger. Die Stimmung lauter und fröhlicher. So klingt es mit lautem Gelächter durch den Abendhimmel. Heute liegt ein Geheimnis in der Luft. Nur: Von diesem Geheimnis ahnt niemand etwas. Die Sonne lässt ihre letzten Sonnenstrahlen über dem Fluss tanzen, bevor sie sich entschließt, ganz unterzugehen. Sie lauschen noch auf die Geräusche um sie herum. Hören Frösche quaken, den Wind in den Zweigen säuseln, irgendwo bellt ein Hund.
In diesem Fluss, wo sich die sieben fröhlichen Kinder aufhalten, gibt es eine Insel, die unsichtbar ist. Korrekterweise muss man sagen, dass sie für die meisten unsichtbar ist, aber nicht für die, die dort leben. Und diejenigen, die sie trotzdem suchen, werden sie nicht finden, weil immer ein dichter Nebel über dem Fluss hängt. Echt kompliziert, also lässt man es lieber bleiben, weil eigentlich alle glauben, keinen Erfolg haben zu können. So denken die meisten, wenn sie überhaupt denken. Doch manchmal, aber wirklich nur ganz selten, da öffnet sich das Wolkenfenster und lässt einen Blick ins geheimnisvolle Land zu. Aber nur, wenn der Weise Zauberer es auch so will.
Und wie es der Zufall heute so will, schaut genau heute, zu dieser Zeit, der Weise Zauberer durch das Wolkenfenster. Er ist der Hüter des Lichts, der Seelen, der Ideen und der Fantasiewelt. Schon eine Weile hat er der fröhlichen Schar zugehört.
Leise murmelt er vor sich hin: »Ihr jungen Leute. Reden, Kichern und Lachen nützen nichts, ihr müsst handeln, um die Welt zu verändern. Ich kann eure Wünsche erfüllen, anders zu sein. Ihr könnt mit mir reisen, durch das unbekannte Land, ans andere Ufer des Flusses.« Die Abendsonne steht tief und taucht die Gräser entlang des Flusses in goldenes Licht. Kleine Nebelfäden steigen geheimnisvoll, silbrig schimmernd, aus dem Fluss. »Ich lade euch ein, mit mir hinter all die kleinen und großen Dinge zu sehen. Machen wir eine Traumreise! Wenn das Mondlicht durch die Zweige fällt, erwacht meine Welt«, haucht der Weise Zauberer.
Frederik schaut zum Himmel, dann in die ganze Gruppe.
»Es riecht nach Außergewöhnlichem!«, lächelt er.
»Siehst du dort in den Wolken das helle Licht?«, flüstert Michelle Leonore zu.
Laura und Fabienne drehen die Köpfe auch dem Licht zu.
»Wir sehen es auch. Es ist ganz sonderbar!«
Auch Raphael und Hendrik sehen es. Wie ein durchsichtiges Zelt ist das Licht über die Erde gewölbt, ohne Säulen. Und doch denkt man, dort wäre jemand.
Einer der Jungs gähnt ausgiebig.
Raphael kratzt sich an der Wade und murmelt: »Mich hat eine Mücke gestochen.« Er kratzt sich wieder und gähnt wie ein Weltmeister. »Ich bin auch auf einmal so müde.«
Die Mädchen kichern und machen ein paar Sprüche über die schlappen Jungs Doch auch sie spüren eine aufsteigende Müdigkeit. Alle werden ganz schläfrig.
»Ich möchte ein richtiges Abenteuer erleben, das richtig Mut erfordert!«, piepst Fredrik noch mit dünner Stimme.
»Schließen wir die Augen und tauchen ab in die Fantasiewelt!«, haucht Laura.
»Wir sind bereit, um abzuheben!«, säuselt Fabienne.
Dann werden die Stimmen immer leiser und leiser. Den Erdenmenschen fallen die Augen endgültig zu. Dann ist es ruhig. Alle sind eingeschlafen. Es ist, als hätte der Sandmann den Freunden Sand in die Augen gestreut. Nur noch eine Maus schleicht umher und sucht nach Essensresten. Der Duft von leckerem Käse steigt ihr in die Nase. Der Mond steht hoch am Himmel und strahlt auf die Schlafenden herab. Alle träumen von einem magischen Abenteuer.
Und plötzlich sind sie auf dieser Seite des Flusses unsichtbar und werden auf der anderen Seite sichtbar. Eine seltsame Geschichte wird den Schlafenden in den Traum gelegt. Der Weise Zauberer legt seinen goldenen Schein in ihre Herzen. Er hat sie leise gerufen und sie haben seinen Ruf gehört. Ein Hauch von Magie liegt in der Luft. Er kommt aus der märchenhaften Zauberwelt. Sein Bart ist schneeweiß wie Watte. Er wohnt hinter dem weißen Nebel, vielleicht auch in den Wolken, dort wo Mond und Sterne zu Hause sind.
Die sieben erwachen im Traumland.
»Träumen wir oder sind wir wach?«
Plötzlich können sie in die Augen des Weisen Zauberers sehen, sie sind strahlend blau und glänzen wie ein Meer voller Sterne.
»Hallo Sternwanderer, wacht auf in meinem Traumland, im Land des silbernen Lichts, da wo ich zu Hause bin. Hört meine Worte und folgt ihnen! Lasst uns gemeinsam auf eine Abenteuerreise in der magischen Welt gehen. Ich bin euer Traumwächter.«
Er schaut die im Traum Erwachten an und möchte wissen, ob sie bereit sind, auf eine Reise voller Fantasie und Abenteuer zu gehen. Sie wissen gar nicht, was sie sagen sollen, weil sie gar nicht wissen, dass sie im Traum erwacht sind. Denn wer kann sich schon an seine Träume erinnern? Er lächelt geheimnisvoll. Eigentlich erwartet er gar keine Antwort.
»Meine jungen Freunde! Wir reisen im Schutz der Sterne. Das Herz ist euer wichtigster Kompass. Vertraut auf eure innere Stimme, sie bringt euch immer wieder nach Hause zurück. Seid ihr bereit für dieses Abenteuer? Aber Achtung, wer einmal dieses Land betreten hat, will es immer wieder besuchen«, hören sie ihn sagen.
Natürlich haben alle Lust, die Fantasiewelt zu bereisen. Und dann spielt der Zauberer auf seiner Flöte. Die Klänge sind hell und klar voller Leichtigkeit und Reinheit. Die Töne tanzen hoch hinauf in die silbernen Wolken. Als wären sie zu Vögeln geworden, die hoch oben ihr Lied singen. Die sieben Freunde strecken im Traum ihre Hände aus und fassen ins Licht. Diese wunderbare Melodie möchten sie festhalten. Nie mehr vergessen. Alles ist ganz wunderbar, aber auch ganz fremd. Als hätten Vögel auf ein Zeichen des Weisen Zauberers gewartet, lassen sie sich auf den Ästen nieder und zwitschern diese herrlichen Klänge mit, sogar der Wind scheint lautlos mitzutanzen.
Des Weisen Zauberers Fantasiewelt ist wirklich voller Geheimnisse. Wie an unsichtbaren Fäden werden die Sternwanderer geführt durch des Zauberers unbekanntes Land. Sie fühlen, wie sie mehr und mehr im Traumland erwachen und immer mehr durch den Nebelschleier blicken können, der meistens so zäh und dicht ist, dass man nicht hindurchzuschauen vermag. Doch jeder muss seinen eigenen Weg finden und gehen. Sie können sich untereinander nicht mehr sehen.
Gute Träume für die Welt
Die meisten Menschen glauben nicht mehr an ihre Träume, aber die Träume sind der Schlüssel zur anderen Welt. Träume brauchen keinen Schlaf. Sie können gut und schön sein, aber auch unfreundlich, sogar zu einem Albtraum werden. Im Land der Träume laufen die Dinge anders als sonst auf der Welt. In der Traumwelt ist fast alles möglich.
An diesem Ort, wo die Kinder jetzt sind, glühen die Wolken wunderbar in Purpurfarben. Türkisfarbene Dunstschleier flattern über den Horizont. Die Bäume machen strenge Gesichter, zeigen mit den Ästen auf die Neuankömmlinge. Was wollen die sieben hier? Sie tragen alle ein Licht unter grauem Schleier. Es flüstert und raunt durch Wiesen und Wald.
Es ist auch das Land der Zwerge. Zwerge sind für die Menschen unsichtbar. In alten Zeiten lebten die Zwerge noch vereint mit den Menschen. Sie arbeiteten fast alle unter der Erde. Die Zwerge bauten Erz, Kohle, Silber und andere Stoffe ab. Sie waren ein fleißiges Volk. Die Zwerge wurden nie krank. Sie kannten die Gesetze der Natur und verstießen nie dagegen. Sie verwalteten auch die kostbaren Edelsteine und verfügten über geheimes Wissen. Sie besaßen einen kostbaren, mächtigen Edelstein. Ein unbeschreiblicher schöner Lapislazuli. Die Zwerge kannten seine Kräfte und wussten, dass nie ein Mensch mit keinem guten Herzen diesen Stein besitzen durfte. Seine mächtigen Kräfte konnte man für das Gute, aber auch für das Böse benutzen. Die Menschen kamen scharenweise und bedrohten die Zwerge, denn jeder wollte den Stein für sich besitzen. Die Zwerge waren ratlos, wie sie sich gegen die Menschen wehren sollten, denn sie besaßen keine Waffen. Und so beschlossen sie, für die Menschen unsichtbar zu werden. Von da an lebten sie unsichtbar unter den Menschen. Den Stein brachten sie auf eine geheime Insel und versteckten ihn gut und man sagt, dass er auch gut bewacht würde. Aber von wem, das weiß man nicht.
Im Zwergenvolk auf der anderen Seite des Flusses lebt auch Zwerg Dengo.
Einige Zwerge pilgern am Ufer eines Flusses entlang. Zwerg Dengo ist auch dabei. Alle schauen sehnsüchtig zum geheimnisvollen Ufer. Im Nebeldunst leuchtet ganz zaghaft ein Schloss herüber. Sie rätseln über das wunderbare Sonnenschloss, das voller Geheinisse ist. Doch es gibt nur einen Weg, um das Schloss zu finden: den Weg zu sich selbst. Aber das weiß eigentlich niemand. Und auch nicht wie dieser Weg aussehen könnte. Er wird gemunkelt, dass sieben Kinder sich aufgemacht haben, das Sonnenschloss zu finden.
Vielleicht glaubt ihr, das alles wäre nur Fantasie. Doch ich verrate euch, es gibt sie wirklich.
Zwerg Dengo möchte unbedingt diese Kinder kennenlernen. Er vermutet, dass mindestens eines im Sonnenschloss aufwachsen könnte. Das wäre ein Anfang auf der Suche. Die anderen Zwerge glauben, sie könnten überall geboren worden sein, nur dort nicht. So hat jeder seine Meinung, auf der er beharrt, und doch weiß es keiner, wie es wirklich ist. Eben wie bei den Menschen. Da denkt auch jeder, er wüsste es besser.
»Soll ich losziehen und die Geheimnisse am anderen Ufer des Flusses erforschen?«, fragt er die anderen und sich selbst immer wieder.
Doch die anderen Zwerge wollen ihn nicht weglassen. Aber mit der Zeit ist es ihm im schönen Zwergenland sowieso etwas langweilig geworden. Er weiß nicht, wohin die Reise gehen wird. Aber sein Entschluss ist da, er will einfach weg und Neues entdecken. Jetzt oder nie!, denkt er.
Es ist, als lächele das Schloss ihm auf der anderen Seite des Flusses besonders freundlich entgegen. Als möchte es sagen: »Komm und suche mich.« Aber wie gelangt man überhaupt zu diesem Schloss? An gewissen Stellen des Flusses, der die Ufer trennt, ist er breit wie ein See und doch ist es kein See. Es ist halt der silberne Fluss, der die wirkliche Welt von der Märchenwelt trennt. Der Fluss ist immer von einem weißen dichten Nebel überzogen. Er kriecht ganz dicht über dem Wasser wie ein Gespenst. Man kann auch nie ein Boot sehen. Oder einen Fährmann, der die Menschen von einem zum andern Ufer bringt. Lediglich die Spitzen von Schilfrohr sind in der Ferne zu sehen. Ein Brückenbogen endet im Nirgendwo. Doch wo beginnt die Brücke und wo endet sie? Zwerg Dengo will sich endgültig auf den Weg machen, um all diese Geheimnisse zu lüften. Erwartungsvoll schlurft er am Ufer hin und her. Es ist ganz kribbelig, wie und wann er das Abenteuer starten soll. Die Menge des Zwergenvolks beginnt zu flüstern. Die einen warnen ihn, die anderen machen ihm Mut. Andere spotten über ihn.
»Er ist ein Angsthase?«, ruft einer.
»Ich ein Angsthase … Von wegen!«, ruft er zurück. Zwerg Dengo ist sehr aufgeregt.
»Dir fehlt doch der Mut!«, ruft ein anderer.
Nun gibt es für ihn kein Zurück mehr. Er will definitiv kein Angsthase sein. Bestimmt fünf Minuten bleibt er wie angewurzelt stehen und atmet vorsichtig die Luft ein und langsam wieder aus, die irgendwie ganz anders ist. Beim Ausatmen bildet sein Atem kleine Wolken, die für einige Sekunden wie kleine durchsichtige Lichter in der Luft hängen.
Zwerg Dengo fasst sich mit der Hand ans Herz: »Ich muss es wagen, ich habe eine Mission!« Er starrt in den dichten Nebel und dieser starrt zurück. »Eine Mission? Habe ich wirklich eine Mission?«
Zwerg Dengo ist ganz hin und her gerissen. Dann zieht er die Schuhe aus, bindet die Schnürsenkel zusammen und hängt sie sich über die Schulter. Entschlossen watet er sachte Schritt für Schritt durchs Wasser. Seine Zehen vergraben sich in Sand und Schlamm. Das Wasser bleibt nur knöcheltief. Doch je weiter er sich vom Ufer entfernt, umso weiter verschwindet das alte Leben hinter ihm.
»Ja, nicht den Mut verlieren. Ich will einfach andere Dinge kennenlernen«, murmelt er vor sich hin.
Dann endlich sieht er den Anfang der Brücke. Kann er überhaupt das Überschreiten der seltsamen Brücke wagen? Schon seit Ewigkeiten bauen Menschen an dieser Brücke, die nie fertig sein wird. Ein solches Bauwerk kann nicht vollendet werden, wenn von der gegenüberliegenden Seite nicht entgegengebaut wird.
»Jetzt ist der Augenblick gekommen, über diese seltsame Brücke zu gehen! Ich habe das Gefühl, dass Freunde mich auf der anderen Seite brauchen«, macht der Zwerg Dengo sich selbst Mut.
So beginnt sein Weg ins Unbekannte. Er betritt sachte die Brücke. Ein Geländer fehlt. Gurgelnde Geräusche. Tief unten wildes Wasser. Die Umgebung scheint voll gespenstischer Schatten zu sein. Sein Herz klopft vor Aufregung. Diese Brücke verbindet die sichtbare mit der unsichtbaren Welt, das ist ihm bewusst. Eigentlich will niemand über diese Brücke gehen, weil niemand weiß, wohin sie führt. Und diejenigen, die darüber gegangen sind, die kamen nicht mehr zurück. Und wenn sie doch gegangen und zurückgekommen sind, haben sie geschwiegen. Und da schon seit Ewigkeiten gebaut wird, ist der erste Teil der Brücke schon wieder halb zerfallen.
Nirgendwo kann der Zwerg eine Wache entdecken.
»Aus welchem Grund, sollte diese Brücke auch bewacht werden?«, murmelt der Zwerg vor sich hin. Er steht eine Weile nur da, schaut über die Brücke in den Nebel und denkt nach. Noch nie hat er sein Zwergenvolk verlassen. Noch nie den Duft einer anderen Welt gerochen. Zwerg Dengo entschließt sich, trotz letzter Bedenken, über diese Brücke zu gehen.
»Ich habe keine Angst! Bin ja kein Angsthase«, sagt er laut.
Schritt für Schritt geht Zwerg Dengo über die eigenartige Brücke und verschwindet im Nebel. Er horcht angespannt in die trübe Nebelsuppe. Weit vor sich hört er das ruhige Raunen eines Flusses. Es plätschert trübselig. Leicht weht der Wind.
Nach einer Weile hört die Brücke auf. Er steht zuoberst auf einem Treppenabsatz, was ihn sehr verwundert. Eine Treppe am anderen Ende der Brücke hat er nicht erwartet. Vor ihm geht eine lange Treppe nach unten. Die unteren Stufen verschwinden in einem anderen Nebelmeer. Er überlegt und denkt: Die Möglichkeit besteht, dass unten gar nichts Besonders ist und ich nur träume! Oder ich falle in eine Grube und komme nicht mehr raus? Er zupft an seiner Nase, kratzt sich am Kopf, schiebt seinen Filzhut hin und her und denkt nach. Sachte stellt er einen Fuß auf den Treppenabsatz. Doch die Treppe ist weich wie Watte.
»Habe ich es mir doch gedacht, dass da etwas nicht stimmt! Jetzt scheint es unheimlich zu werden!«, brummt er. Die einzige Möglichkeit, die Treppe hinunter zu gelangen, ist ein Sprung ins Ungewisse. »Soll ich springen oder nicht?«, wägt der Zwerg wieder ab. Die Vorstellung, ins Ungewisse zu springen, bereitet ihm schon ein flaues Gefühl im Magen. Doch Zwerg Dengo ist mutig und denkt: Das Leben ist ein mutiges Abenteuer oder nichts! Nervös streicht er sich am Kinn und sammelt nochmals seine Kräfte. Dann zählt er. »Drei, zwei, eins.« Er nimmt Anlauf, schließt die Augen und lässt sich mit ausgebreiteten Armen fallen. In einem hohen Bogen fliegt er wie ein Vogel durch die Luft und verschwindet im Nebelmeer. Es flimmert ihm vor den Augen, als er versucht, sie zu öffnen. Endlos scheint er zu fallen. Schwerelos schwebt er in die Tiefe, wird wieder emporgehoben, um wieder herabzusinken. Dabei umhüllen ihn wunderbare Farben, die er so noch nie gesehen hat. Endlos möchte er schweben, wie ein Blatt im Wind. Weil es einfach so schön ist. Er fühlt sich wie in einem Traum, aus dem er langsam erwacht.
Der Instinkt übernimmt wieder Oberhand. Jetzt gilt es, richtig zu fallen und auf den Füßen zu landen. Unsanft landet er auf dem staubigen Boden. Ihm ist, als erwache er endgültig aus einem Traum und wäre gerade aus dem Bett geworfen worden.
»Autsch!«, grummelt der Zwerg, rappelt sich auf und schaut erstaunt um sich. Er holt tief Luft und murmelt: »Also, ich habe mir hier das ganz anders vorgestellt, alles viel schöner, was mich in diesem Land hinter dem Nebel erwarten würde!«
Er sieht sich um. Hält seinen Kopf schief und lauscht. Er sieht zu den Sternen und schluckt. Er ist allein an diesem Ort, den er nicht kennt. Aufmerksam geht er durch das unbekannte Land. Plötzlich steht er vor den Eingang zu einem dunklen Tunnel. Es weht ein leichter Luftzug. Neugierig betritt er den Tunnel. Ehe sich der Zwerg etwas denken kann, wird er von einem Sog ergriffen und durch den Tunnel gezogen. Genauer gesagt: Der Zwerg fliegt durch den Tunnel. Er ist von endloser Länge. Er verliert sich in dunklen Schatten. Nirgends ist eine Tür zu sehen. Dann wird der Wind nochmals stärker, als hätte er damit eine unsichtbare Tür geöffnet. Es wird heller und heller.
»Halleluja!«, ruft der Zwerg. Ein Seufzer der Erleichterung. Es wird so hell, dass der Zwerg Dengo die Augen schließen muss. Er fühlt ein leichtes Schwindelgefühl im Kopf.
Drei der dreizehn ganzseitigen Illustrationen:
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