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Cover Rechne mit dem Tod  - Ein Edday Valby Krimi    Leseprobe "Rechne mit dem Tod - Ein Edda Valby Krimi"

von Neal Skye

Taschenbuch, 300 Seiten, ISBN: 978-3-96050-243-2

Als die russischen Panzer am 24.02.2022 die Grenze zur Ukraine überschritten haben, waren bereits zweihundert Seiten geschrieben und sechszehn Monate in dieses Buch investiert worden. Natürlich stellte sich die Frage, ob man einen Krimi veröffentlichen kann, der zu einem großen Teil in Sankt Petersburg spielt, wenngleich im Winter 2018, weit vor den alles verändernden Ereignissen. Und natürlich kam das Projekt für einen Moment komplett zum Erliegen. Aber es handelt von Menschen, die wie wir alle ihren ganz eigenen Antrieb haben, ihre ganz eigenen täglichen Kämpfe austragen und die somit Teil einer Geschichte geworden sind, die es zu Ende erzählen galt.

Kapitel 1

Stockholm – Sonntag 16.12.2018 19 Uhr

»Und? Siehst du was?«

»Ja, ihn. Er setzt sich an einen Tisch direkt am Fenster. Er zieht sich die Jacke aus und – Achtung! Jetzt nähert sich ihm eine junge Frau. Er spricht mit ihr.«

»Na endlich! Kannst du schon erkennen, wer es ist?«

Aufgeregt löste Berglund seinen Sicherheitsgurt und riss seinem Kollegen das Fernglas aus der Hand, als dieser nicht gleich reagierte. Vielleicht erfuhren sie nun endlich, was Hallak für ein Spiel spielte.

Hatte es überhaupt etwas mit seinem merkwürdigen Auftreten in Kristianstad zu tun? Eine seltsame Andeutung in einem Telefonat mit der Leiterin der Stockholmer Mordkommission in Verbindung mit einem Bauchgefühl, das diese nicht näher zu erläutern gedacht hatte, war eine ausreichende Begründung für eine Kurzzeitobservierung gewesen.

Mit wem traf er sich? Berglund spähte gespannt durchs Fernglas und bemerkte Morlands Grinsen erst viel zu spät.

»Ich wollte gerade von seinen Lippen ablesen, was er sich bei ihr bestellt«, sagte Morland mit übertrieben schmollendem Unterton.

»Wann wirst du endlich erwachsen?«, fragte Berglund und schleuderte das Fernglas in Morlands Schoß, dass diesem abrupt das Schmunzeln verging.

»Ach, komm schon! Wir verfolgen ihn jetzt seit zwei Stunden und alles, was der Typ macht, ist shoppen. Erst die Buchabteilung und die Parfümerie im Warenhaus, eben der Whisky aus dem Scotland-Store und jetzt bestellt er sich wahrscheinlich einen Kaffee. Und ich komme mir langsam vor wie ein verdammter Stalker.«

»Das ist auch mein freier Sonntag, der hier flöten geht«, erwiderte Berglund unwirsch. »Mensch, das ist doch nicht deine erste Observierung.«

Morland stieß einen abfälligen Zischton aus.

»Observierung nennst du das? Wir sollten froh sein, wenn wir nichts finden, was wir in einen Bericht schreiben müssten. Ich sehe die Alte schon im Zeugenstand, wie sie verzweifelt versucht, diesen Einsatz zu legitimieren.«

»Du siehst zu viel fern, oder? Und glaube mir mal, wenn Edda vor Gericht aussagen würde, dann hätte niemand Zweifel daran, dass die Beschattung legitim war.«

Kopfschüttelnd lehnte sich Morland zurück.

»Er ist nicht mal ein Verdächtiger!«

»Weißt du ja nicht«, antwortete Berglund gelassen. »In jedem Fall hält er Informationen zurück und behindert damit unsere Ermittlungen.«

»Pff. Er ist einfach schneller als wir. Und als wenn das nicht peinlich genug wäre, stalken wir ihn in der Hoffnung, über ihn zu erfahren, wer hinter all dem steckt.«

Berglund verzog den Mund.

»Wenn man dir so zuhört, könnte man denken, du redest über einen verdammten Rockstar. Geh doch hin zu ihm und lass dir ein Autogramm geben.«

Morland schüttelte den Kopf.

»Was hast du gegen ihn? Das klingt fast, als sei das was Persönliches. Der macht doch auch nur seinen Job!«

»Der Typ verarscht uns seit Jahren. Was sag ich, seit Jahrzehnten.« Berglund schnaufte verächtlich. »Mag so acht oder neun Jahre her sein. Bei überraschend vielen Einsätzen war plötzlich die Presse vor Ort. War nicht das erste Mal, daher war uns relativ schnell klar, dass da irgendwer den Polizeifunk abhörte und die Informationen wahrscheinlich meistbietend versteigert hat. Das hat unsere Arbeit erheblich erschwert. Wir haben daraufhin der Brut eine Falle gestellt. Gezielt Falschinformationen gestreut. Eine Geiselnahme in einem Bürokomplex. Alle sind darauf reingefallen. Nur Hallak nicht. Der war sonst immer als Erster vor Ort, aber in dem Fall? Keine Spur. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass ihn irgendjemand gewarnt hat. Einer von uns.«

»Lass mich raten: Es ist nie herausgekommen, wer ihn gewarnt hat.«

Berglund nickte. »Er weiß etwas über die Sache und rückt damit nicht raus.«

Morland grinste.

»Doch, ich schätze, eines Tages erfährst du alles auf der Titelseite des ›Stockholm Kurieren‹.«

Berglund stöhnte.

»Und genau das werden wir verhindern!«

Morland schmunzelte und führte das Fernglas wieder vor seine Augen.

»Du, jetzt kommt wirklich jemand. Aber keine Ahnung, wer das ist.«

»Gib mir mal das Fernglas«, forderte Berglund ihn auf. »Wie sieht er denn aus?«

Morland grinste.

»Jung, schlank, sportlich, halblange, dunkelblonde Haare – hübsch, soweit ich das sehe.«

»Eine Frau?«, fragte Berglund irritiert und vergewisserte sich selbst.

»Vielleicht eine Geheimagentin«, spottete Morland. »Oder wir vertrödeln Zeit, während er ein heißes Date hat.«

»Du vertrödelst Zeit«, raunte ihn Berglund an. »Los, rein da mit dir. Der Nachbartisch ist frei. Worauf wartest du denn noch? Setz dich dahin und versuch mitzukriegen, worüber sie reden! Und beeile dich!«

»Wieso ich?«, maulte Morland.

»Dich kennt er noch nicht«, antwortete Berglund gereizt.

Morland fluchte. Schwer stöhnend öffnete er die Wagentür, stieg aus und gab der Tür einen ordentlichen Schwung. Berglunds verärgerten Kommentar überhörte er. Dann zog er den Jackenkragen hoch, überquerte die Straße, die entlang des Vasaparken führte, und betrat das kleine Restaurant, das typisch schwedische Gerichte anbot. Er setzte sich mit dem Rücken zu dem Tisch, an dem Hallak mit seiner Begleitung saß. Aber er hörte sie nicht sprechen. Für einen Moment ärgerte er sich, dass er sich nicht für die andere Seite des Tisches entschieden hatte, um wenigstens mitzubekommen, was sie überhaupt taten. Hielten sie Händchen? Dafür war die Frau ein wenig zu jung gewesen. Fünfundzwanzig vielleicht, während Hallak schon die Vierzig ein gutes Stück überschritten hatte. Er hörte ein schelmisches Schnaufen, offensichtlich von ihm und dann steuerte die Bedienung mit zwei Latte Macchiato auf einem kleinen Tablett zum Tisch hinter ihm.

»Danke, stimmt so«, hörte er Hallak sagen.

Morland traute seinen Ohren nicht. Ein Stuhlbein quietschte am Boden – offenbar war einer der beiden am Nachbartisch aufgestanden. Irritiert drehte er sich um. Hallak grinste und wandte sich dann wieder der Kellnerin zu.

»Einen bekommt der Kommissar am Nachbartisch und einen bring doch bitte dem anderen, der sich in dem silbernen Volvo da draußen den Arsch abfriert.«

Hallak zwinkerte Morland zu und verließ das Restaurant. Die junge Frau, die keinen Ton gesagt hatte, folgte ihm, ohne Morland eines Blickes zu würdigen.

Kapitel 2

Stockholm – Montag 17.12.2018 7 Uhr 05

»Guten Morgen, Mats!«, flötete Edda Valby. »Gut geschlafen?«

Niemand lachte, auch wenn allein das missmutige Gesicht von Mats Berglund dazu einlud.

»Hej«, antwortete er kaum hörbar. Es ist sieben Uhr morgens, dachte er. Und es hatte zu Hause nicht mal zu einem Kaffee gereicht, um die vorverlegte Einsatzbesprechnung der Stockholmer Mordkommission nicht zu verpassen. Das war eigentlich das Schlimmste gewesen.

»Sebastian hat es mir schon erzählt. Euer Einsatz von gestern Abend war ja offenbar ein voller Erfolg. Bravo.«

Berglund holte tief Luft.

»Also, wenn ich dazu …«

»Nicht jetzt«, unterbrach ihn Valby mit einem breiten, künstlichen Lächeln, das umgehend erstarb.

»Da wir jetzt vollständig sind, können wir ja nun endlich anfangen. Also was haben wir?«

Sie deutete auf das Whiteboard, auf der ein Foto einer Frau und eines mit einem ausgebrannten Auto zu sehen war.

»Die Frau wurde gestern Abend etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht auf Riddarholmen gefunden. Wir gehen zumindest davon aus, da um elf Uhr zweiunddreißig im ›Stadssjukhuset Marieberg‹ ein Notruf einging. Der Anrufer meldete, er habe einen Körper aus dem Wasser gezogen und umgehend Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet. Der Anruf kam von einem Handy eines russischen Anbieters und der Mann sprach mit einem russischen Akzent. Ich verspreche mir nicht viel von den Nachforschungen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der russische Provider uns einen Namen angeben kann. Ob der Anrufer nur Zeuge oder auch Täter ist – da sollten wir offenbleiben. Sollte er lediglich Zeuge sein, bleibt die Frage, warum er den Notruf anonym getätigt hat. Sie liegt im Koma und die Ärzte können noch nicht sagen, ob sie durchkommen wird. Sie hat Hiebverletzung am Hinterkopf, verursacht wahrscheinlich mit einem Hammer oder der stumpfen Seite einer Axt. Könnte auch ein Pflasterstein gewesen sein – das wird derzeit noch zu präzisieren versucht. Gefunden wurde am Tatort nichts dergleichen. Sie hat offenbar nur wenige Minuten im Wasser gelegen, doch ohne den Notruf hätte sie in jedem Fall nicht überleben können.«

»Wissen wir schon, wer es ist?«, fragte Gudmundsson.

Valby schüttelte den Kopf und verzog den Mund zu einem breiten, falschen Lächeln.

»Das wäre mein nächster Punkt gewesen, Pelle. Nein, die Identität ist noch nicht geklärt, obwohl durch die schnelle Entdeckung es noch möglich war, Fingerabdrücke zu nehmen. Leider sind diese nicht im System, sodass uns das für den Moment nicht hilft. Das Opfer ist weiß, weiblich, Mitte zwanzig, einen Meter sechzig groß, schlank, keine besonderen Merkmale, außer … Stella?«

»Das Opfer weist multiple Frakturen im rechten Arm und einige Hämatome an Schulter, Oberarm und Bauch auf«, begann Lindbergh. »Also Hinweise auf häusliche Gewalt, auch wenn die Spuren nicht unterschiedlichen Alters sind. Genau kann es die Rechtsmedizin noch nicht sagen, aber erste Einschätzungen sprechen von mehr als drei Monaten, aber weit weniger als ein Jahr. Vielleicht wurde das ja zur Anzeige gebracht. Sehr wahrscheinlich war sie aufgrund der Frakturen auch in medizinischer Behandlung. Ich denke, dass wir da ein paar Ansätze haben, die die Identität offenbaren werden. Es gibt allerdings ein kleines Problem. Sie hatte keine Brieftasche dabei, was die Identifizierung erschwert. Aber nach einem Raubüberfall sieht es auch nicht aus. Das Opfer trug eine hochwertige Armbanduhr russischen Fabrikats.«

»Moment! Russisches Fabrikat?«, wiederholte Berglund. »Also erst ein russisches Handy, dann ein Anrufer, der mit einem russischen Akzent sprach und nun eine russische Armbanduhr? Russische Mafia? Ist das wieder ein Fall für das NOA?«

»NOA?«, fragte Bára Joensen.

»Abteilung für Nationale Operationen«, erklärte Berglund und zwinkerte ihr zu. Joensen kam von den Färöer-Inseln und war für einen gemeinsamen Fall aus Tórshavn nach Stockholm gesandt worden. Nach dessen Abschluss hatte sie sich auf eine frei gewordene Stelle beworben und gehörte nun seit zwei Wochen fest zum Team, zumindest, bis die Formalitäten geklärt waren. Sie war ursprünglich ausgewählt worden, weil sie aufgrund ihrer schwedischen Mutter die Sprache beherrschte. Zudem hatte sie die ersten zwei Jahre ihres Lebens in Schweden verbracht und war somit zweisprachig aufgewachsen. Allerdings musste sie daran arbeiten, sich den starken Småland-Akzent abzugewöhnen. Es war ihr unangenehm, wenn Valby sie korrigierte oder gar nachfragen musste, wenn diese sie nicht beim ersten Mal verstanden hatte. Ebenso unangenehm wie diese Frage. Natürlich war allen außer ihr klargewesen, was Berglund mit NOA gemeint hatte.

»Eine Beteiligung der Russischen Mafia zu vermuten wäre natürlich eine vorschnelle Schlussfolgerung«, bemerkte Lindbergh.

»Und die Mafia ruft auch nur äußerst selten in Krankenhäusern an, weil sie versehentlich eine Frau versenkt haben«, stichelte Valby und gab Lindbergh ein Zeichen, dass sie fortfahren sollte.

»Aber neben der Uhr weist das Textilpflegesymbol ihrer Hose darauf hin, dass diese in Russland hergestellt worden ist. Also ja, eine Meldung an das NOA ist raus, um eine mögliche Zusammenarbeit mit den russischen Behörden zu koordinieren.«

»Und was hat das brennende Auto auf der Tafel zu suchen?«, fragte Almgren.

»Das wäre eine der Aufgaben, die wir schnellstens zu lösen haben«, sagte Valby.

»Russische Mafia.« Berglund hob wie zur Entschuldigung die Schultern. »Ich sag es ja nur. Das Bild von dem Auto deutet auf einen Brandbeschleuniger hin. Damit schätze ich, werden wir im Wagen keine brauchbaren Spuren finden. Wäre daher passend zu ihrer Handschrift.«

Gudmundsson schüttelte den Kopf.

»Das mag ja sein, aber dagegen spricht, dass sie einen noch lebenden Menschen offenbar ziemlich dilettantisch einfach ins Wasser geschmissen haben – noch merkwürdiger: Sie hat überlebt. Würde mich nicht wundern, wenn die Spurensicherung da noch weitere Spuren findet. Vielleicht sogar am Auto – an der Scheibe zum Beispiel. Da könnte man auch trotz Brand verwertbare Spuren finden.«

Klugsch , dachte Berglund, ließ sich aber nichts anmerken und sah Gudmundsson an.

»Weiß man schon etwas über das Fabrikat des Autos? Ein Lada vielleicht?«

Berglund ignorierte Valbys ärgerlichen Blick. Ironische Kommentare mochte sie nicht. Zumindest nicht die von anderen.

»Ein weißer Opel Combo«, antwortete Lindbergh. »Ein Lieferwagen einer Malerfirma, die diesen prompt heute Morgen als gestohlen gemeldet hat.«

»Hm …« Berglund stand auf und ging zum Whiteboard, um sich das Bild von dem Wagen näher anzusehen. Eher zufällig fiel dabei auch sein Blick auf das Foto mit der Frau. Das hatte er von seinem Platz aus so genau gar nicht sehen können, aber jetzt stand er mit offenem Mund da und, ohne es zu merken, hatte er den Arm gehoben und seinen Zeigefinger ausgestreckt. Einen Moment blieb er so regungslos stehen, bis er bemerkte, dass ihn alle anderen anstarrten.

»Kennst du diese Frau?«, fragte Valby irritiert.

»Sebastian«, sagte er nur. »Du hast sie von Nahem gesehen. Das ist sie, oder?«

Morland verzog die Augenbrauen. Wen meinte er? Er zuckte mit den Schultern, stand auf und näherte sich der Tafel.

»D-das«, stotterte er, nachdem er das Bild der Frau sah. »Das ist sie.«

Morland sah Berglund fassungslos an.

»Möchte einer von den Herren auflösen? Bitte?«, fauchte Valby. Berglund erlangte als Erster die Fassung.

»Wir wissen nicht, wer sie ist.«

»Aber«, ergänzte Morland, »wir wissen, wer es weiß.«

»Lars-Erik Hallak vom ›Stockholm Kurieren‹.« Berglunds Stimme klang wütend. Sie hatten sie gestern noch gesehen. In dem kleinen Restaurant am Vasaparken. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie einen Weg gefunden, ihn weiter zu beschatten. Aber sein Kollege hatte es ihm ausgeredet. Und nun stand Morland neben ihm und rang nach Luft.

Kapitel 3

Stockholm – Mittwoch 31.10.2018 10 Uhr 15

Ulf Mårtensson leitete die Buchhaltungsabteilung der Östersjön Feeder AB nun seit über zwanzig Jahren. Leif Sylvegård, der Gründer der Reederei, persönlich hatte ihn noch eingestellt. 2008, kurz vor der Weltwirtschaftskrise, hatte dieser das Unternehmen an seine Tochter Hanna Sylvegård übergeben. Sie hatte es durch äußerst schwieriges Fahrwasser zurück in ruhigere Gewässer geführt. Die Östersjön Feeder AB galt bei den Dienstleistern und Banken wieder als kreditwürdig und immer häufiger nahmen sie größeren Konkurrenzunternehmen namhafte Kundschaft ab. Auf der Weihnachtsfeier sechs Jahre zuvor hatte Sylvegård in ihrer Rede zum Ausblick auf das neue Jahr den Einstieg der koreanischen Sang-eo Shipping Line Ltd. mit dreißig Prozent verkünden können. Frisches Kapital, verbunden mit einem starken Partner, nur so konnten sie sich gegen die immer stärkere Konkurrenz behaupten. Im Folgejahr waren die Buchungszahlen explodiert, das Personal musste aufgestockt werden und erst ein Jahr zuvor war der Bau von zwei eigenen Schiffen in Auftrag gegeben worden. Doch die Anforderungen des wichtigsten Partners führten auch Nachteile mit sich. Und diese schlugen nun mit voller Härte zu. Trotzdem wollte Mårtensson es nicht glauben. Bisher war es nur ein Gerücht gewesen, das sich seit dem frühen Morgen hartnäckig gehalten hatte. Doch als er den Namen Hanna Sylvegård auf dem Display seines Telefons gelesen hatte, fürchtete er das Schlimmste. Nach ihrer Bitte nach einer Außenstandanalyse für die Sang-eo Shipping Line hatte er sich bestätigt gefühlt. Und nun war es bittere Gewissheit.

»Ulf, hej«, begrüßte Sylvegård ihn.

»Hej.«

Sein Blick traf auf betretene Gesichter. Stina Andersson, General Sales Managerin und stellvertretende Geschäftsführerin, Human Ressource-Manager Bjarne Sundström, Anders Olsson, Leiter der Marine-Abteilung und letztlich Camilla Wiberg, stellvertretende Leiterin der Customer Service Abteilung und damit die jüngste in der Runde.

Das versteinerte Gesicht von Hanna Sylvegård sprach Bände.

»Stina?«, forderte sie Andersson auf, ohne den Kopf in ihre Richtung zu bewegen.

»Ja, also«, begann diese. »Die Gerüchte sind leider wahr. Die Niederlassung von Sang-eo in Hamburg hatte heute eine Mitarbeiterversammlung und da wurde ihnen mitgeteilt, dass das Unternehmen Insolvenz angemeldet hat.«

»Unser Hamburger Büro ist sogar schon kontaktiert worden, ob die dort einen ihrer Auszubildenden übernehmen könnten«, ergänzte Sundström.

Sylvegård blieb ein hysterisches Lachen im Halse stecken.

»Reden wir doch mal Tacheles! Wenn so ein Riese wie Sang-eo insolvent geht, gibt es einen ordentlichen Strudel, der alles mit in den Abgrund reißt, was sich zu nah an ihm befindet.«

Niemand widersprach.

»So viel zu ›too big to fail‹«, murmelte Andersson.

Das ist niemand, dachte Mårtensson. Gerade erfolgreiche Unternehmen fällen in den fettesten Jahren schwerwiegende Entscheidungen, die sich bei rückläufigen Buchungen oder fallenden Frachtraten schnell auf die Liquidität auswirken können. Zudem: Wer in solch goldenen Zeiten warnend den Finger hebt, wird nicht ernstgenommen. Es gab eben immer einen Spielverderber, der in jeder Suppe ein Haar sah. Mårtensson war so einer. Aber auch er wusste, dass ohne die Partnerschaft mit den Koreanern längst die Lichter ausgegangen wären. Nun schienen sie mit einer Verspätung von einigen Jahren zu erlöschen.

»Wie hoch sind die Außenstände?«, fragte Sylvegård.

Alle drehten ihre Köpfe in Mårtenssons Richtung.

»Etwa fünf Komma zwei Millionen Kronen.«

»Und wie viel schwimmt davon noch?«

»Etwa neunhunderttausend könnten wir noch kriegen.«

Das war das Erste, was Mårtensson überprüfte, nachdem er von den Insolvenzgerüchten gehört hatte. Immerhin eine knappe Millionen Kronen konnten noch kassiert werden, denn diese Zahlungen würden auch Insolvenzverwalter freigeben, damit die Container freigestellt, sprich ausgeliefert werden konnten.

»Wissen es die Russen schon?«, fragte Olsson.

»Oh ja!«, platzte es aus Sylvegård heraus. »Die haben Angst um die Allianz.« Sie schluckte und atmete tief durch. »Und das ja nicht zu Unrecht. Die beiden Neubauten brechen uns nun das Genick.«

Mårtensson nickte. Zwei neue Schiffe hatten sie Anfang des Jahres in Auftrag gegeben, um die immer höheren Anforderungen von Sang-eo nach mehr Platz auf ihren Schiffen gerecht werden zu können. Langfristig sollte sich das rentieren, die eigene Flotte weiter aufzubauen und nicht nur von Charterschiffen abhängig zu sein. Das hatte jedoch einen Nachteil: Charterverträge konnte man einfach auslaufen lassen, die Kosten für die Neubauten dagegen konnten nicht mehr abgewendet werden.

Stina Andersson sagte nichts. Niemand bemerkte, wie sie leicht die Augenbrauen hob. Die Kosten für die zusätzlichen Schiffe waren die eine Sache. Die andere war, dass durch das erhöhte Angebot es schwieriger werden würde, genug Ladung zu generieren. Und das zu Raten, die noch verantwortet werden konnten. Aber hatten sie eine Wahl? Der Umsatz von Sang-eo machte zuletzt ein gutes Viertel vom Gesamtumsatz aus und die neuen Schiffe waren für den Sankt Petersburg-Le Havre-Loop und für den neuen Dienst nach Felixstowe und Grangemouth geplant. Eine Anforderung von Sang-eo, die auf diese Weise die Abhängigkeit der kleinen Feeder-Company komplett gemacht hätte. Von den lokalen Anbietern war kaum Ladung dorthin zu erwarten. Zumal sie mit Boman & Boman AB gerade erst einen großen Direktkunden, also einen, der nicht über eine Spedition, sondern direkt beim Reeder buchte, verloren hatten, weil sie ihnen mehrfach keinen oder zu geringen Platz auf den Schiffen hatten anbieten können. Stina Andersson hatte Sylvegård gewarnt und war auf offene Ohren gestoßen. Aber längst war die Abhängigkeit zu groß geworden, um sich gegen den starken Partner aufzulehnen.

»Sie können mit uns wachsen oder sterben«, hatte Lee Yin-Song, der Leiter des europäischen Hauptquartiers in Hamburg, ganz offen zu Sylvegård gesagt. In einem äußerst freundlichen Ton.

Kapitel 4

Sankt Petersburg – Montag 01.12.1997 19 Uhr 30

»Sprichst du jetzt wieder mit mir?«

Vasilij Léonidovitch Bogdanov ließ sich in seinen Sessel fallen, sah seine Frau Sonja kurz an, schüttelte dann den Kopf und griff nach dem halb vollen Glas ›Vodka Russkaya‹.

»Warum?«, fragte sie mit kühler Stimme. »Weil du Jana ins Bett gebracht hast? Einmal über den Kopf streicheln, Gutenachtkuss und schlaf schön? Erwartest du einen Orden dafür?«

»Was soll ich denn machen?«, rief Vasilij und ärgerte sich darüber, wie laut er die Frage gestellt hatte. Ratlos sah er Sonja an und sprach betont leise weiter. »Wie oft wollen wir darüber noch diskutieren?«

Früher hatte sie ihn für diesen hilflosen Welpenblick geliebt. Ein Bär von einem Mann, kein Beau, aber von stattlicher Statur, der ein gesundes Maß an Selbstbewusstsein ausgestrahlt hatte. Und dann dieser Blick, der ihr das Gefühl gegeben hatte, dass sie sich gegenseitig beschützen konnten. Die berühmte harte Schale, die einen weichen Kern in sich barg. Der Klassiker. Und sie war darauf hereingefallen.

Aber jetzt verabscheute sie ihn, diesen unschuldigen Blick. Je länger er sie so ansah, desto mehr stieg die Aggression in ihr auf.

»Trink ruhig noch ein Glas«, antwortete sie schnippisch. »Ist ja seit neustem deine Antwort auf alles. Warum soll ich da noch was zu sagen?«

Vasilij stellte das Glas zurück auf den Tisch, ohne davon auch nur genippt zu haben.

»Geht es immer noch um gestern? Bist du immer noch sauer?«

»Er weiß es ja doch.« Sonja hob die Augenbrauen, als sei sie überrascht. »Wir hatten eine Abmachung.«

Vasilij ruderte hilflos mit den Armen. Sie hatte recht, das war nicht zu bestreiten. Den ganzen Samstag war er in der Firma gewesen, um die Verhandlungen mit der koreanischen Containerreederei vorzubereiten. Dafür hatte sich Sonja allein um ihre Tochter gekümmert. Am Sonntag hatte ihre Mutter Geburtstag und sie waren bei ihren Eltern eingeladen. Vasilij hatte es nicht vergessen, aber es gewagt anzurufen, als es absehbar war, dass er es nicht mehr schaffen würde. Zu wichtig war dieses Geschäft für die junge Firma.

»Ich kann mich nicht zerreißen!«, rief er. Wieder viel zu laut.

»Genau das verlangst du aber von mir«, antwortete Sonja kühl.

»Es ist auch …«

Vasilij stand auf und Sonjas Blick fiel auf sein leuchtend rotes Gesicht.

»Ja, es ist auch mein Kind! Und mein Kind hat das Recht auf eine sorgenfreie Zukunft!«

Sonja gab einen abfälligen Laut von sich.

»Sie hat vor allem ein Recht auf eine sorgenfreie Gegenwart. Ich habe ein Recht auf eine sorgenfreie Gegenwart! Du schiebst seit Jahren die Firma vor. Und gestern …« Sonja faltete die Hände wie zum Gebet und presste die Fingerspitzen an ihr Kinn. »… hast du nur wieder eine Ausrede gesucht, nicht zu meinen Eltern zu müssen.«

»Du weißt, dass das nicht stimmt«, feuerte er ihr entgegen.

»Ach nein? Wolltest du nicht wenigstens die Blumen für sie besorgen? Ich hoffe ja schon gar nicht mehr, dass du mir mal Blumen schenkst, aber ein bisschen Anstand gegenüber meiner Mutter wäre da angebracht gewesen. Deiner Mutter musste ich immer Blumen besorgen!«

»Das ist ja jetzt vorbei.« Konnte sie nicht einfach aufhören zu streiten?

»Ja entschuldige, dass meine Eltern noch leben!«

»Wir können sie ja nächstes Wochenende besuchen«, versuchte es Vasilij mit einem versöhnlicheren Ton. »Oder Donnerstag. Dann haben wir vielleicht etwas zu feiern.«

»Oh nein!«, fauchte Sonja. »Das endet nur wieder im Streit, wenn du vor meinem Vater mit deinen Geschäften prahlst. Die letzten Male hast du ihn fast zur Weißglut gebracht und dich hinterher stundenlang noch über ihn beschwert.«

Vasilij winkte ab.

»Dein Vater ist ein ewig Gestriger. Reaktionäres Geschwafel über den Verrat an der Sowjetunion und über den Teufel, der mit dem Klassenfeind Geschäfte macht. Klar, sie arbeiteten beide in Forschungslaboren, sie gehörten zu den Privilegierten des Systems. Das System, das sich ja um alle so toll gekümmert hat! Schon vergessen? Dein Vater hält Jelzin für einen Abgesandten des Teufels persönlich.«

»So ein Quatsch! Außerdem musste ich mich auch immer zusammennehmen, wenn dein Vater …« Sonja schluckte.

»Musst du ja nun auch nicht mehr!« Wutentbrannt schleuderte er die Hand gegen sein Glas, das mit voller Wucht gegen die Bodenvase knallte.

»Sag mal, hast du einen Knall?« Sonja stand auf und betrachtete das gute Stück. Das Glas hatte einen langen Riss in der Vase verursacht.

»Spinnst du jetzt völlig?« Sie stemmte ihre Hände in die Hüfte und baute sich bedrohlich vor ihm auf. »Hast du dir jetzt den letzten Funken Verstand weggesoffen, dass du mit Gläsern rumwirfst?«

Tut mir leid, lag ihm auf der Zunge, aber angesichts ihres wütenden Blickes und der beleidigenden Worte vermochte ihm dieser Satz nicht über die Lippen zu gehen. »Es ist eine scheiß Vase! Eine hässliche, scheiß Vase!«, schrie er stattdessen.

Mit wütendem Blick sah Sonja ihn an. Dann lächelte sie, ohne ihre Mimik oder ihre Körperhaltung zu verändern, die auf Angriff ausgelegt war.

»Weißt du, was noch hässlich ist?« Entschlossen drehte sie sich um, nahm eine Karaffe aus dem Regal und schleuderte sie zu Boden, auf dem sie mit einem lauten Knall zersplitterte.

»Meine Vase, deine Karaffe. Wir sind quitt.«

Vasilij hatte eine Sekunde daran gezweifelt, dass sie es wirklich tun würde. Nein, sie waren nicht quitt. Das mit der Vase war keine Absicht. Das mit der Karaffe schon. Und sie wusste, dass diese ein Geschenk seiner Eltern war. Er hörte ihr nicht mehr zu. Mit einer schnellen Bewegung schoss er vorwärts und schlug ihr mit aller Kraft seine flache Hand ins Gesicht.

»Hör auf!«, schrie er und schlug sie ein zweites Mal. Noch härter, sodass sie zu Boden sank. Dann drehte er sich um und trat mit voller Wucht gegen die Vase, die daraufhin in tausend Teile zerbrach.

»Jetzt«, schrie er, »sind wir quitt!«

Nur eine Wand weiter lag ein vierjähriges Mädchen hellwach auf ihrem Bett und wünschte sich, sie wäre nie geboren worden.

Vielleicht würden Mutti und Papa dann nicht so viel streiten, dachte sie.

+++ +++ +++

Textprobe: Neal Skye

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