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 Leseprobe "Acello und der Riese Philemon"

von Mirjam Wyser

Alter: 10 - 14 Jahre, Taschenbuch, 98 Seiten, ISBN: 978-3-96050-125-1

Inhaltsverzeichnis

Der Eremit ruft
Irgendwo und überall
Der Riese Philemon
Der alte Mann
Der Spiegel
Der Almhirte
Der komische Vogel
Das dunkle Haus
Angriff des dunklen Barons
Spielen verboten
Gefangen beim dunklen Baron
Der Fuchs
Der geheime Weg zur Burg
Die Spiegelscherbe
Das Licht der Liebe
Die Pagode
Philemon wechselt seinen Namen
Die Tierfänger
Die Mondschaukel

1. Der Eremit ruft

Einige Jahre sind vergangen seit die Mistelbande versucht hat, die Welt zu zerstören. Professor Cello kämpfte mit seinem Pferd Kevin damals erfolgreich gegen die Mistelbande. Der angerichtete Schaden, welche die Bande der ganzen Welt zugefügt hat, war aber so groß, dass es sogar nötig wurde, dass der Eremit im letzten Augenblick die Posaune blasen musste. Das hatte zur Folge, dass das Rad der Zeit für einen Augenblick angehalten worden ist. Dadurch haben die Menschen vieles vergessen, was sie einst gelernt haben. Nun galt es wieder, mit einem Hilfsmittel eine neue Welt aufzubauen. Anfänglich waren die Menschen auch stolz und glücklich über das Erreichte. Eine Weile herrschte sogar Frieden und Freundlichkeit auf der Welt, weil jeder den anderen brauchte, um die zerstörte Welt wieder aufzubauen. Die gegenseitige Hilfe genügte nicht. Um Häuser, Wasserleitungen, Stromnetze und vieles mehr aufzubauen, brauchte es ein intelligentes Wissen, das den Menschen nun fehlte. Zerstören ist einfach. Doch um Dörfer, Schulen, Städte, Wasserleitungen und vieles mehr neu aufzubauen, dazu braucht es Intelligenz.

Die Himmelswelt sah die große Hilflosigkeit der Menschen und so schickten sie ihnen den Riesen Philemon zur Hilfe auf die Welt. Weil er so bescheiden und immer freundlich war, hielten die Menschen ihn bald für einen gutmütigen Trottel. Doch für jedes Problem kannte er eine passende Lösung. Eigentlich hätten die Menschen merken müssen, dass der Riese Philemon etwas Besonderes war. Aber sie merkten es nicht. Doch wie überall gab es auch solche, die schnell bequem und faul wurden.

Eines Tages hört Professor Cello eine innere Stimme rufen. Die Stimme der Stille. Die Stimme klingt weit entfernt, wie ein Ruf aus einer anderen Welt, trotzdem erkennt er sie. Sie gehört dem Eremiten Philippe. Die innere Stimme hat Professor Cello aufgefordert, den Eremiten in seiner Klause wieder einmal zu besuchen. Der Kampf mit der Mistelbande hat damals auch dem Pferd Kevin viele Lebenskräfte geraubt. Das war auch der Grund, warum Professor Cello den Eremiten seitdem nicht mehr in seiner Klause besucht hat.

In dieser Nacht zieht Professor Cello wieder seine Nachtbrille auf und wird zu Acello und Kevin zu seinem geflügelten Pferd. Als Acellos Himmelsgespann fliegen sie wieder durch die Nacht Richtung Eremitenklause. Das fliegende Gespann kommt gut voran. Es ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl, wieder so losgelöst durch den Himmel zu fliegen. Zwischendurch steigen geisterhafte Nebelschwaden auf, welche Acello nachdenklich stimmen. Einmal glaubte er sogar, spukhafte Gestalten tanzen zu sehen.

»Nein, nein, das kann überhaupt nicht sein!«, murmelt er vor sich hin. Er will sich die Freude über ein Wiedersehen nicht mit solchen Gedanken verderben. Langsam nähern sich Mensch und Reiter den Bergkuppen, wo versteckt die Eremitenklause liegt. Schon von Weitem sieht Acello die vier uralten, mächtigen Königsbäume, welche die Hütte des Eremiten beschützen. Über allem strahlt ein herrlich funkelnder Stern.

Für Philippe wird am Himmel ein Lichtpunkt sichtbar. Wie eine Sternschuppe, die auf die Erde fällt. Es ist Acello auf seinem geflügelten Pferd, die im Anflug sind. Kevin kurvt präzise auf das Ziel zu. Dreht ab, nimmt den Wind aus den Flügeln und setzt zur Landung an. Auch ohne telefonische Anmeldung oder Handy-Nachricht hat der Eremit Philippe gewusst, dass Acello heute zu Besuch kommen wird. Seine strahlenden Augen richten sich auf die Nachtflieger. Die Freude des Wiedersehens ist groß. Auch die vier großen Bäume neigen sich vor Freude über das gelandete Himmelsgespann.

Der Eremit steht etwas schwerfällig von seiner Holzbank auf und macht ein paar Schritte auf die Angekommenen zu. Auf seinen Stab gestützt, sieht der Eremit würdig und väterlich aus. Er verneigt sich zum Gruß und streicht sich über den Bart.

Acello nimmt seine Nachtsichtbrille ab und setzt sich neben seinen Freund auf die Holzbank. Vieles haben sich beiden zu erzählen. Dann wird der Eremit ganz traurig und mit tonloser Stimme berichtet er, wieso der Professor gerufen worden ist:

»Meine lieber Freund, der Flug zu mir hat nichts mit unbeschwertem Vergnügen zu tun.«

Acello fühlt bei diesen Worten eine unangenehme Beklemmung. Diese geisterhaften Nebelschwaden hat er sich also doch nicht einfach nur eingebildet. Der Eremit fährt in seiner Erzählung fort:

»Eine große Spinne mit unendlich vielen Beinen hängt wieder über der Welt. Die Spinne ernährt sich von den bösen Gedanken, den Lügen, der Unzufriedenheit der Menschen. Diese Spinne kann man mit keiner Kriegswaffe besiegen. Besiegbar ist sie nur mit dem strahlenden Seelenlicht der Menschen. Die größte Gefahr ist der dunkle Baron. Erfolgreich versucht er wieder durch seine Lügen, die Seelenlichter der Menschen zu verdunkeln. Vieles haben die Menschen vergessen, als die Posaune geblasen worden ist, doch ganz tief in ihren Seelen können sie sich wieder schleierhaft an eine Zeit erinnern, die voll von Technik, schnellen Autos und einem Luxus war, die der Riese Philemon den Menschen nicht bieten kann. Die Menschen werden wieder unzufrieden. Sie wollen mehr, nicht das einfache arbeitssame Leben. Sie wollen wieder mit wenig Arbeit viel Geld verdienen, um große Macht zu erlangen. Macht über andere Menschen! So ist es für den dunklen Baron eine einfache Sache, Menschenseelen zu fischen und sie durch falsche Versprechen in sein dunkles Reich zu ziehen. Er raubt denen, die ihm folgen, blitzschnell das Seelenlicht, so verdunkelt sich die Welt wieder und das Böse wird wieder mächtig.«

»Das sind gar keine guten Nachrichten! Ich habe gehofft, dass die Menschen endlich einsichtiger werden!«, meint Acello voller Besorgnis.

Der Eremit streicht sich wieder nachdenklich über den langen Bart und meint: »Es ist ein ständiger Kampf auf Erden. Du weißt ja, mein lieber Freund Acello, bei den Erdenmenschen sitzt auf der linken Schulter ein Engel, der den Menschen beschützt, aber ihm den freien Willen lässt. Auf der rechten Schulter sitzt ein kleines Teufelchen, das dem Menschen dauernd seinen Willen zuflüstert, aber nicht im guten Sinne. Denn das Teufelchen wächst durch das Böse. Der Erdenmensch muss lernen, wem er vertrauen will. Dafür hat er ein Gehirn zum Denken bekommen.«

»Das hast du schön gesagt!«, schmunzelt Acello. »Aber was kann ich dabei tun?«

Philippe atmet tief durch: »Auf den Riesen wartet eine gefährliche Herausforderung. Diesen Weg wird er alleine gehen müssen. Doch vielleicht wird er deine Hilfe brauchen, darum höre immer gut in dich hinein, wenn ich dich rufe!«

Acello verspricht es, auf der Hut zu sein. Noch viel hätten die beiden zu diskutieren. Doch die Zeit drängt zum Abschied. Bald wird der Tag erwachen und Acello und sein geflügeltes Pferd müssen vor Sonnenaufgang zurück sein. Zurück auf der Erde wird Acello wieder Professor Cello sein und Kevin ein ganz gewöhnliches Pferd.

Von Osten dämmert bereits der Morgen heran, als Acello und Kevin sich endlich auf den Rückflug begeben. Dann beginnt der Himmel, sich orangerot zu verfärben. Acello und Kevin sind gerade noch knapp vor Tagesanbruch im Schloss am Moor gelandet. Professor Cello streicht Kevin durch seine wilde Mähne und haucht ihm zu: »Wie in alten Zeiten, mein liebes Pferd. Auf uns wird wieder viel Arbeit warten!«

Doch als er sein geliebtes Pferd ansieht, wird ihm bewusst wie noch nie, dass sein Kevin alt geworden ist. Wie lange wird er noch mit Kevin durch die Nächte fliegen könnten?

Und so beginnt die Geschichte vom Riesen Philemon.

Irgendwo und überall

Irgendwo und überall leben unsichtbare himmlische Wesen. Zwischen Himmel und Erde, da wohnt nicht nur der Eremit, sondern auch der weise Zauberer in seinem Wolkenschloss. Der weise Zauberer ist ein großer Magier. Solche Wesen nennt man auch Adepten oder Avatare, weil sie sich in der sichtbaren und unsichtbaren Welt bewegen können.

Durch sein Himmelfenster kann er, genauso wie der Eremit, auf die Erde und in den Himmel schauen. Ganz selten verwandelt er sich in einen Menschen, nur wenn es wirklich erforderlich ist. Er sieht und hört und weiß alles. Weil er immer viel Arbeit hat, sind viele Helfer da, die ihm zur Seite stehen. Viele Engel, Feen, Zwerge, Baumgeister und Naturwesen. Als ganz wichtiger Helfer gehört nun auch Acello dazu. Er ist zusammen mit dem geflügelten Pferd Kevin sein Himmelsbote geworden. Blitzschnell fliegen sie als Himmelsgespann durch den Nachthimmel. Wenn jemand um Hilfe ruft, sind sie sofort zur Stelle. So, wie sie es dem Eremiten versprochen haben.

Ein lauer Frühlingstag neigt sich dem Ende zu. Aus der Ferne klingt ein feines Rauschen. Der Riese Philemon schaut in den sternenfunkelnden Himmel. Er ist wie in eine Wolke gehüllt. Über seinem Haupt steht ein Regenbogen. Sein Antlitz strahlt wie die Sonne und seine Füße gleichen Feuersäulen. In dem Augenblick kann er ein Zeichen sehen. Von goldenem Mondlicht überflutet, schwebt ein Licht der Erde entgegen. Regungslos steht der Riese Philemon auf einer Waldlichtung und beobachtet voller Spannung das merkwürdige Licht.

Es ist die Fee Benula. Von wunderbarer Schönheit, mit goldschimmernden Haaren und einem lichtvollen Sternenkleid  schwebt sie durch den Himmel, ist sie ein helles Licht, wie eine Sternschnuppe, die auf die Erde gefallen ist.

Da die Fee Benula ein ganz helles Geistkleid umhüllt, darf sie fast niemand umarmen. Es sei denn, dieses Wesen hat auch ein so helles Himmelskleid aus zarten Farben, wie der Regenbogen ist. Doch bis jetzt ist es noch keinem Erwachsenen gelungen, hell genug zu werden. So ist sie immer auf der Suche nach dem einen lichtvollen Erdenmenschen, der sie umarmen kann. Könnte sie ihn finden, würde durch die Umarmung ihr funkelndes Herz noch strahlender werden.

Würde aber ein Erwachsener mit einem dunklen Geistkleid die Fee umarmen, dann würde sich ihr helles Feenkleid verdunkeln. Die Fee würde sich ganz schlecht fühlen und dadurch ihre übersinnlichen Fähigkeiten verlieren. Schon viele Menschen haben versucht, die Gunst der Fee Benula zu erlangen. Doch bis jetzt war kein Geistkleid eines Erwachsenen so strahlend hell, dass sich die Fee hätte glücklich fühlen können.

Und so schwebt sie alleine durch das Traumland und sucht das eine, ganz besondere Wesen, das den Schlüssel zu ihrem Herzen finden kann. Manchmal fühlt sie eine ungeheure Sehnsucht, jemanden zu finden, mit dem sie sich austauschen kann. Zu zweit würden sich die Seelenlichter verdoppeln.

Bei den Kindern ist es anders. Kinder haben noch ganz helle Geistkleider. Sie können noch in die Traumwelt schauen, in die der Fee und des weisen Zauberers. So macht es die Fee immer glücklich, wenn die Kinder kommen, um sie zu besuchen. Die einzigen Wesen, welche die Fee umarmen dürfen, sind die Kinder. Doch die Fee braucht erwachsene Menschen, um ihr Licht weiter auszuweiten. Als sie einmal nachts wieder auf ihrer Mondschaukel sitzt, hört sie, dass die Sphärenmusik der Engel besonders schön klingt. Ein Engel fliegt im Auftrag des weisen Zauberers mit einem goldenen Spiegel herbei. Er gestattet der Fee hineinzuschauen. Zuerst sieht sie nur einen Lichtkreis und dann den Riesen Philemon. Sternenlicht fällt leuchtend in die Herzen der Fee und des Riesen. Jetzt weiß die Fee, dass die Himmelsbewohner jemanden gefunden haben, der ein ausreichend helles Geistkleid besitzt. So hofft sie auf den Seelenglanz des Riesen, der dem ihrigen ähnlich ist. Was für die Menschen unmöglich ist, das kann die Macht der Engel vollbringen. Denn diese haben übernatürliche, himmlische Kräfte.

+++ +++ +++

Die Bände der Reihe rund um Professor Cello, die Lichtkönigin und seine Freunde können unabhängig voneinander gelesen werden.

Textprobe: Mirjam Wyser

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