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Coverabbildung Kate - Die letzte Göttin    Leseprobe "Kate - Die letzte Göttin"

von Perry Payne

Taschenbuch, 324 Seiten, 18 Kapitel, ISBN 978-3-96050-057-5

»Denn ich sehe in die Ferne, zu den Okeanos und Homer und den Göttern des Ursprungs, und ich sehe die Voll­kommenheit in einem strahlenden Licht, die weit entfernt und unerreichbar für all jene ist, die dem Zweifel erliegen.«

Kapitel 1

»Vergiss heute Abend deine Analysen. Du bist nicht in der Schule. Schau mal, die Mädchen sind anders gepolt als Männer. Die wirst du mit deinem Psychodings ohnehin nicht durchschauen.«

»Aber ich will herausfinden, warum sie anders sind. Das ist doch ein spannendes Thema«, sagte Jaime und nippte an seinem ersten Bier.

William klopfte ihm auf die Schulter. »Wir sind zum Fischen hier, nicht um sie zu betrachten. Schnapp dir die Alte an der Bar. Findest du nicht, dass sie ein wenig traurig aussieht? Möglicherweise braucht sie jemanden, der sie aufmuntert.« Er zwinkerte ihm zu und ging zu seinen Freunden an der Bar.

Natürlich hatte William recht. Es brachte nichts, hier rumzusitzen und die Leute zu beobachten.

Die Lounge war schlecht besucht, die Luft vernebelt und die Musik dudelte belanglos vor sich hin. Gelangweilt beobachtete Jaime das einzige Pärchen auf der Tanzfläche, das sich im Schutz der Dunkelheit aneinanderschmiegte.

Jaime musterte die gewellten Haare der Blondine und fuhr gedanklich ihre weiblichen Rundungen ab. Der Kerl hielt ihren Hintern mit beiden Händen, als würde er ihm gehören. Dabei sah der Typ nicht mal besonders gut aus. Wie konnte sich ein attraktives Mädchen nur mit so einem Idioten abgeben?

Aber nein. Es gab nur einen Idioten in diesem Raum. Und der saß exakt auf seinem Stuhl. Gerade wurde ihm klar, wie lange er bereits keinen Mädchenpo mehr gespürt hatte, griff sich nachdenklich an den Nacken und rieb sich über die dunkelblonden Haare, die er mit viel Gel für diesen Abend einigermaßen in Form gebracht hatte. Beiläufig goss er sich den letzten Schluck aus der Bierflasche in sein Glas und hielt sich gedankenverloren daran fest.

Es war Nancys Hintern gewesen, ein fester, praller Hintern unter ihrer schmalen Taille, mit dem er vor fast einem Jahr näheren Kontakt gehabt hatte. Genau genommen war das sein absolutes Sex-Highlight der vergangenen Jahre gewesen. Diese Tatsache war überaus deprimierend, besonders wenn man bedachte, dass sie von diesem Kontakt nicht einmal etwas mitbekommen hatte. Dafür war das Gedränge auf dem Flur in der Highschool einfach zu groß gewesen.

Auf Anraten von William hatte sich Jaime vor knapp zwei Monaten eine Liste mit den Wunschkriterien für seine Traumfrau zusammengestellt und längst damit begonnen, die meisten Punkte wieder zu streichen. Er brauchte dringend eine größere Vielfalt, um überhaupt ein Mädchen zu bekommen. Mit gesenktem Blick zog er das schlabbrige Papier aus seiner Jeans, legte es auf die Tischplatte und strich es mit dem Handrücken glatt. Was war das für eine lächerliche Liste? Die Hälfte seiner glorreichen Stichpunkte war bereits durchgestrichen. Er hatte sich vom unglaublichen Humor, den Modelmaßen und sämtlichen Wunschhobbys (Rennfahrerin, Extremsportlerin, Tänzerin und außergewöhnlich gute Köchin) verabschiedet. Das traf ebenso auf die mögliche Haarfarbe – ein helles Blond, was sehr gut zu seinen dunklen Haaren passen würde – sowie eine optimale Körpergröße zu. Die wenigen Punkte, die noch verblieben, beschränkten sich auf Treue, Ehrlichkeit und dass sie unternehmungslustig sein sollte. Wenn er heute nur noch eine Sache durchstreichen würde, könnte er die Liste gleich vergessen. Denn dann würde in ein paar Wochen nur noch ein einziger Punkt übrig bleiben. Und das war »Traumfrau«, der über allem stand.

Ich muss endlich etwas unternehmen, dachte er, während er den überlaufenden Schaum einsog, sein Glas anhob und über den nassen Rand am Glasboden wischte.

William hatte sich zu zwei Mädchen an den Tisch gesetzt und unterhielt sich eifrig mit ihnen, lachte und erzählte vermutlich die alten Geschichten, von denen nicht einmal die Hälfte der Wahrheit entsprachen. Immerhin hatte er mit dieser Masche Erfolg.

Alan, ein Kommilitone aus der Uni, hatte sich an den Lippen einer Blondine festgesaugt und Mike saß mit zwei Kumpels vom Bikerclub an der Bar, lästerte so laut über die Autofahrer, die Schule und die billigen Nutten im Viertel, dass Jaime immer wieder Auszüge davon mitbekam.

Einige leere Barhocker weiter saß das Mädchen mit den kurzen Strubbelhaaren. Vielleicht suchte sie wirklich jemanden und hatte ebenso wenig Mut wie er?

Also gut. Ich werde es tun, beschloss er und rieb sich die Hände an der Jeanshose.

Er stellte sein Glas ab und ... Und sein Mut verflog alleine bei dem Gedanken, sie anzusprechen. Was würde er sagen? Komm schon, das ist kein Problem, spornte er sich an. Immerhin hatte er monatelang für solche Momente in vielen schlaflosen Nächten geübt. Dummerweise verschwanden gerade sämtliche coolen Sprüche im heillosen Wirrwarr seiner Gedanken. Und wenn er jetzt den Mund aufmachen würde, käme entweder irgendein Schwachsinn heraus oder nur warme Luft.

Mit auseinandergestelltem Daumen und Zeigefinger maß er ihre Größe von den Füßen bis zu den aufgestellten Haaren ihrer frechen Frisur. Dann hielt er das Maß seiner Finger vor sich über den Tisch und sagte leise: »Sie ist nicht einmal zehn Zentimeter groß. Also kann ich das Problem locker bewältigen.« Wer nicht wagt, der wird ewig die Chipstüte alleine leerknabbern müssen, seine einsame Zeit mit Pizza vor der Glotze verbringen und Selbstgespräche führen.

Beherzt erhob er sich und lief zielstrebig auf sie zu. Jetzt würde er die gewaltige Hürde zwischen Wunsch und Realität überwinden wie eine steile Wand ohne Ausrüstung und jegliche Erfahrung.

Der Barkeeper stellte dem Mädchen einen Cocktail hin und zeigte zum anderen Ende des Tresens. Sie nickte einem jungen Mann zu und hob ihr Glas an.

Jaime fasste sich in den Nacken und drehte sich um sich selbst. Verdammt, ich bin zu spät, dachte er und wurde von jemandem gestoßen.

»Pass doch auf«, sagte der Typ harsch und ging weiter. Das Mädchen drehte sich zu Jaime, der sich gerade wie ein Idiot vorkam. Sie trug ein knappes, enges Shirt und hatte einiges an Rouge aufgetragen. Unsicher fragte Jaime: »Darf ich mich setzen?«

Sie sah über die vielen leeren Plätze an der Bar, verzog kaum merklich den Mund und wendete sich ab, ohne etwas zu entgegnen.

Okay, Jaime. Sie hat dich angesehen. Entweder versteht sie deine Sprache nicht oder sie ist generell taub. Möglicherweise hielt sie ihn einfach für einen Idioten, was allerdings deutlich schlimmer wäre. Egal. Er war hier und konnte nicht verlegen herumstehen. Also setzte er sich.

»Ich habe dich schon des Öfteren im ›Firestone‹ gesehen«, sagte er laut, um die Musik zu übertönen.

Jetzt musterte sie ihn. Der Blick war missfällig. Ihre Mundwinkel verrieten ihm eine neutrale Genervtheit (falls es das überhaupt gab?). Jedenfalls schien sie, wie es zu erwarten gewesen war, nicht allzu begeistert von seiner Anwesenheit zu sein. Verdammt.

Sie sah ihn an. Also könnte sie darauf warten, dass er etwas sagte. Natürlich, er brauchte jetzt einen guten Spruch, um das Eis zu brechen.

»Krasse Tischplatte.« Er klatschte mit der Handfläche viel lauter, als er es vorgehabt hatte, auf den Tresen. Sie drehte sich weg und nippte an ihrem Cocktail.

Krasse Tischplatte?, dachte er. Sah sie aus wie ein Schreinermädchen? Reiß dich zusammen, Jaime. Noch so ein Ding und du hast es endgültig verbockt.

Er räusperte sich. »Seit einigen Wochen komme ich regelmäßig her. Läuft eine coole Mucke. Na ja, vielleicht ist sie gar nicht so cool, aber immer noch besser als das Bier.«

Sie reagierte nicht und er legte nach: »Entweder kannst du nicht sprechen oder du redest allgemein nicht mit jedem Idioten. Was davon ist es?«

Jetzt lächelte sie wenigstens. »Zieh Leine, Sunny. Werde erwachsen und lerne, bevor du dir die Finger verbrennst. Du bist nicht meine Klasse.« Ihre Stimme klang rau und ruhig.

»Ich bin Jaime«, ignorierte er ihre Worte und grinste. Ihm wurde bewusst, dass er jetzt noch bescheuerter aussehen würde, und schob vorsichtig seinen Mund zusammen. »Weißt du, zu Hause habe ich ein Sammelalbum mit den besten Abfuhren. Die mit dem Klassenunterschied war neu.«

Sie zog ihr Shirt glatt und überschlug die Beine. Ihr Blick war auf die Tanzfläche gerichtet.

»Herrje, wie die Zeit vergeht.« Er sah auf seine Armbanduhr, ohne jedoch die Zeiger wahrzunehmen. »Ich muss dann auch wieder.« Er zeigte auf den leeren Tisch, stand auf und sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

»Du bist also Jaime?«, sagte eine weiche Mädchenstimme neben ihm und er drehte sich um. Sie war einen Kopf kleiner als er und hatte ein unglaublich niedliches, fast kindliches Gesicht. Das Mädchen, um die Zwanzig, hatte lange, schwarze Haare, eine deutlich schwarz gefärbte Augenpartie und nahezu schwarze Lippen. Sie trug einen grauen Pullover mit viel zu langen Ärmeln. Fragend starrte er sie an.

»Ja, das mein Name.« Oh Gott. In Gedanken griff er sich an die Stirn. ›Ja, das mein Name?‹ Was sollte das gerade sein? Kann ich jetzt schon nicht mehr richtig reden?

»Bestellst du mir einen Drink, Jaime? Ich nehme einen Chamborlada mit doppeltem Rum.« Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf einen leeren, abseitsstehenden Tisch. »Ich sitze gleich dort drüben.« Selbstbewusst schwang sie ihren Kopf herum, sodass ihr die langen Haare hinter die Schulter fielen. Ihre runden Pobacken schienen ihm in anmutiger Bewegung etwas sagen zu wollen.

Als er bemerkte, dass sein Mund offenstand, drehte er sich rasch zur Bar, doch irgendetwas zwang ihn, ihr erneut hinterherzusehen. Er ging alle möglichen Bekanntschaften durch und versuchte sich an Schülerinnen aus anderen Altersstufen, Freundinnen von Freunden, Verkäuferinnen und Pizzalieferantinnen zu erinnern. Dieses hübsche Ding wäre ihm mit Sicherheit aufgefallen.

Er bestellte zwei Chamborlada und sprach das strubbelige Mädchen an der Bar wieder an. »Ich möchte dir gerne einen Drink spendieren. Für die tolle Abfuhr hast du es echt verdient.« Seine Blicke hafteten weiter auf der mysteriösen Schwarzhaarigen.

»Spare dir das Geld. Du bist einfach nicht mein Typ.«

Lächelnd sah er zu ihr. »Möglicherweise. Übrigens bist du auch nicht mein Typ.«

Sie schmunzelte und drehte sich mit einem Augenzwinkern weg.

»Machen Sie ihr noch einmal dasselbe«, sagte Jaime dem Barkeeper und zeigte auf ihren Drink.

»Das macht achtzehn Dollar«, bestätigte der und griff bereits nach einer Flasche, die er kurz schwenkte und gekonnt die richtige Menge in die Gläser goss. Kurz darauf stellte er die Drinks ab, verzierte noch schnell die Coconut Cream mit je einer Lotusblüte und schob sie über den Tresen.

Jaime legte zwei Scheine hin, nahm die Gläser und lehnte sich mit dem Rücken an die Bar. Die ist so süß wie ein Fass voller Honig. Ich muss ein Glückspilz sein, dachte er und je näher er dem Mädchen mit den schwarzen Haaren kam, umso mehr ertrank seine Freude in der Nervosität. Und wenn sie mich verwechselt hat oder sie eine blöde Wette von William folgt?, dachte er. Immerhin hatte der Typ so etwas schon öfter gemacht. Unsicher trat er an ihren Tisch.

»Woher kennen wir uns?«

»Setz dich.« Ihre Iris war schwarz und groß und er konnte ihre Ausstrahlung nicht deuten. Sie lächelte sanft, ihre Augen waren klar und sie strahlte eine ungeheure innere Kraft aus, die das zarte Mädchen äußerst selbstsicher und geheimnisvoll wirken ließ.

Langsam rückte er den Stuhl ihr gegenüber zurück und setzte sich breitbeinig. Sie war wunderschön.

»Glaubst du an den Himmel?«, rutschte ihm heraus.

»Ich glaube nicht daran, vielmehr weiß ich, dass es ihn gibt«, sagte sie eintönig.

»Dann ist dir die Liebe auf den ersten Blick also auch bekannt?«

»Nur als dummes Geschwätz der Menschen.«

Seine Hoffnungen schmolzen zusammen wie ein Schneeball im Hochofen. »Wer bist du?«

»Ich bin Melantho, Tochter des Dolios. Die meisten nennen mich Trish.« Ihr rundliches Gesicht war makellos. Die Nase war klein und eine Seite ihrer Haare hatte sie hinter ein Ohr geklemmt. So stolz sie auch wirkte, so traurig und verletzlich sah sie aus. »Ich habe eine ganze Weile nach dir gesucht, Jaime.«

»Habe ich einen Preis gewonnen oder so etwas? Ich kann ...«

Mit erhobener Hand stoppte sie seine Worte und begutachtete ihn eindringlich. Dafür beugte sie sich etwas über den Tisch. »Wie ist dein voller Name?«

»Jaime Richmond.«

»Gut, also Jaime Richmond.«

»Meine Freunde nennen mich Jay.«

»Dann weißt du ja, wie ich dich niemals nennen werde. Du hast eine Mission zu erfüllen.«

»Ich? Wieso?«, stotterte er und ergänzte rasch: »Was denn?«

»Hast du schon mal etwas vom Tartaros gehört oder vom Olymp der Götter?«

»Klar, worauf willst du hinaus?«

»Bist du dir über die Existenz der Götter bewusst?«

»Ja«, sagte er lang gezogen. »Das ist jetzt nicht dein Ernst? Bist du von irgendeiner Sekte und willst mich anwerben?« Er verzog den Mund und stemmte sich schwerfällig mit den Händen auf dem Tisch hoch. »Schade. Angenehmen Abend noch, schönes Mädchen, aber so etwas ist nichts für mich.« Er drehte sich um und machte den ersten Schritt, als sie neben ihn sprang und schwungvoll auf den Sitz zurück schleuderte.

»Aua!« Jaime wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ihr fester Griff hinterließ eine schmerzende Schulter und seine Wirbelsäule tat weh. Er rieb sich den Rücken und verfolgte ihre Bewegungen, bis sie auf dem Stuhl gegenüber Platz nahm. Als ob nichts geschehen wäre, blickte sie ihn friedlich lächelnd an.

»Du hast einen festen Griff. Hätte ich nicht erwartet. Kannst du das bitte lassen? Ich werde mich jetzt erheben und zu meinem Tisch rübergehen. Wäre das für dich okay?«

»Versuche es«, sagte sie liebevoll und ihm lief ein Schauer über den Rücken.

»Was willst du von mir? Ich meine nur, wie sieht es denn aus, wenn ich mit der Erstbesten abhänge, die einen knackigen Hintern hat?«

»Du denkst ernsthaft, ich habe einen knackigen Hintern?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Pass auf, Kleiner. Zunächst möchte ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit.«

Er schnaubte. »Um was geht es?«

»Ich habe eine Aufgabe für dich.«

»Also gut. Ich gebe dir eine Minute. Hast du das verstanden? Möglicherweise wartet nämlich die Lady an der Bar noch auf mich.«

»Noch verzeihe ich dir deine Arroganz.« Sie stellte beide Hände neben ihrem Cocktail auf, als ob sie eine Rede halten wollte und behielt ihn gelassen im Auge: »Kennst du die Macht der Götter?«

»Ich stehe nicht besonders auf solche Sachen. Es wäre gut, wenn du gleich auf den Punkt kommst.« Seine Worte wurden immer leiser, als er ihre dampfenden Hände sah. Der feine, weiße Dunst sank auf die Tischplatte ab, kroch das Glas hinauf und breitete sich wie ein Flüssiggas darum aus.

»Es geht nicht um deinen Gott oder irgendeinen Glauben«, sagte sie ruhig.

Überaus gespannt starrte er auf den Dunst und wie sich das Cocktailglas langsam schräg stellte und schmolz. Die austretende Flüssigkeit baute sich als winziger Berg vor ihr auf und verdunstete in einer Nebelwolke, die sich sanft erhob, bis nichts mehr vom Cocktail übrig war. Es wirkte beiläufig, wie sie diesen Nebel durch ihre Nase einsog, bis sich ihre Augen verdrehten und nur noch das Weiße darin zu sehen war. Plötzlich schnellten sie wieder vor und starrten ihn an.

Das ist unheimlich, dachte er.

Der Dunst war verschwunden. Genau wie das Glas mit­samt seinem Inhalt und der Dekoration.

»Wow. Wie hast du das gemacht?«

»Materie ist reine Energie und durch seine Anordnung und Informationen an die jeweilige Form gebunden. Es ist also kein Problem die wenigen Grundstoffe beliebig neu aufzubauen. Wahrscheinlich wirst du das nicht begreifen. Für das komplexe Gefüge der Grundstoffe ist das menschliche Gehirn schlicht zu unterentwickelt.«

»Du meinst, ich bin unterentwickelt? Bist du hier, um mich zu beleidigen?«

Sie atmete hörbar ein. »Nein. Ich möchte dir damit nur zeigen, womit du es ab jetzt zu tun haben wirst.«

»Ab jetzt?«

»Ursprünglich stamme ich nicht von der Erde. Meine Mutter Penelope gebar mich als dreizehntes Kind, einem Kind von Talaos, den sie, genau wie meine Geburt, geheim halten musste. Odysseus, der Ehemann von Penelope, war während des Umbruchs viel zu lange unterwegs und die Freier standen irgendwann vor ihrer Tür Schlange. Wie es aussieht, konnte sie einem davon nicht widerstehen. Was dabei herausgekommen ist, sitzt dir also gegenüber. Penelope musste mich im Hades zur Welt bringen, von wo ich in die Tiefen des Tartaros geschickt wurde.«

»Tartaros? Du meinst das Inferno mit Satan und den ewigen Höllenqualen?« Er lächelte abwertend.

»Nenne es, wie du möchtest. Die Menschen haben dafür verschiedene Namen. Jedenfalls war ich denen ... nun, sagen wir mal, eine Spur zu übel, und sie schoben mich zu den Menschen ab. Das ist inzwischen einhundertzwanzig Jahre her. Damals war ich drei Jahre und bin bei einer netten Ziehfamilie in Albany aufgewachsen. Inzwischen sind beide verstorben.« Sie hob beide Hände. »Dafür bin ich aber ausnahmsweise nicht verantwortlich.«

»Was erzählst du mir da für eine seltsame Geschichte? Du bist über einhundert Jahre alt? Du gehörst definitiv in die Geschlossene. Ich weiß nicht, warum ich mir das noch länger anhören soll.«

Sie stöhnte leise. »Weil du dir Schmerzen ersparen möchtest.«

»Glaube nicht, dass ich mir alles gefallen lasse. Gut, du bist ein kleines Mädchen und ich würde dich nicht anfassen, aber ich lasse mich nicht herumschubsen. Auch nicht von dir.«

»Du hast überhaupt keine Wahl. Wir könnten ein Spiel daraus machen. Ich stoße dich an und breche vor dir zusammen und schreie und weine. Sieh dich um. Wir können auf jemanden wetten, wer es ist, der dir dein loses Mundwerk stopft. Na, wie wäre es? Ich hätte sicher viel Spaß dabei.«

»Du bist völlig durchgeknallt. Wie wird man nur so?«

»Wenn du mich richtig kennen würdest, wäre das rein gar nichts. Es kostet mich Überwindung, lieb zu sein.«

Er stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und legte seinen Kopf in die Hände. Gelangweilt blickte er sie an. »Du fängst an zu nerven.«

»Ungefähr so eine Reaktion habe ich erwartet. Also, Mensch, ich habe nicht vor, dir alles dreimal zu erklären. Wie kann ich also deine volle Aufmerksamkeit bekommen?« Sie lehnte sich zurück. Ihr Brustkorb füllte sich sichtlich mit Luft, die sie langsam wieder ausströmen ließ. »Sieh zum Barmann, Kleiner.«

Mit ausgestrecktem Arm machte sie eine Handbewegung, als ob sie etwas greifen würde. Jaime drehte sich zur Bar und sah den Barkeeper hinter dem Tresen herumwirbeln, gegen das Wandregal stoßen, dann gegen die Zapfanlage und mit dem Kopf an die Kasse, als ob er gegen jemanden kämpfen würde. Aber es war niemand in seiner Nähe. Jetzt griff er sich an die Kehle und es sah so aus, als ob er sich selbst würgen würde und nach Luft rang. Mit hochrotem Kopf und verzerrtem Gesicht versuchte er zu schreien, bekam aber keinen Ton heraus. Sein Gesicht veränderte sich. Blasen oder Geschwülste traten aus seinen Wangen hervor und quollen zügig auf. Auch seine Hand und der Arm begannen anzuschwellen und bekamen das Aussehen einer blutenden Kröte.

»Bist du das? Hör schon auf. So etwas finde ich nicht witzig.«

Ein junger Kerl trat an den Tresen und rief: »Drei Lager. Wir verdursten.« Er sah den Barkeeper, berührte dessen Arm und winkte seine Freunde herbei. Auch seine Hand schlug Blasen und fing zu bluten an. Schreiend rannte er am Tresen vorbei und verschwand in der Toilette.

Trish schnippte mit den Fingern. Dem Barkeeper lief ein Schwall Blut unter seiner Hand hervor. Mit dumpfem Schlag brach er hinter dem Tresen zusammen.

»Was ist das für ein abartiger Trick?«, schrie Jaime sie an.

»Ich habe es nicht nötig zu täuschen.«

»Das haben wir gleich.« Jaime sprang auf, rannte zum Tresen, sah darüber und entdeckte den Barmann reglos in einer großen Blutlache liegen. Sein Kopf wirkte zusammengedrückt und war von großen Wucherungen übersät. Seine Beine lagen unnatürlich zur Seite verrenkt. Feine Venen pulsierten auf den Blasen und drohten zu platzen. Das konnte kein Trick sein! Dieser Mann war wirklich tot und glotzte ihm mit grauenvoll entstelltem Gesicht und hervorquellenden Augen entgegen. So etwas Entsetzliches hatte er noch nie gesehen. Als eine wabernde Geschwulst aufplatzte und hunderte winzige Käfer oder schwarze Spinnen daraus hervorkrochen, wurde Jaime schlecht.

Das Mädchen mit den strubbligen Haaren saß inzwischen nicht mehr auf seinem Platz. Entsetzliche Schreie waren zu hören und einige Gäste waren in Aufruhr.

Mit verschränkten Armen stand Trish lässig am Ende des Tresens und betrachtete das Schauspiel.

»Was geht hier vor?«, schrie Jaime und zeigte auf den Barkeeper, über dessen Kopf und Hals sich diese schwarzen Punkte ausbreiteten, bis sein gesamter Kopf davon überzogen war. Es sah wie ein lebendiger Brei aus, der weiter über seine Brust und die Arme wanderte und schnell seinen restlichen Körper bedeckte. Die Masse quoll ineinander, bis der Mann zu zerfließen begann, an Substanz verlor und wie eine erhabene, ölige Pfütze aussah, die sich den Weg durch die Fugen der Fliesen suchte, sich verteilte, unter die Schränke lief und gespenstisch in den Ritzen versickerte.

Erschrocken wich Jaime der öligen Flut aus und sah mit großen Augen zu Trish, die sichtlich gelangweilt an seinem Drink nippte. Als er wieder auf den Boden blickte, verschwanden gerade die letzten schwarzen Tropfen in den Fugen. Sein Herz schlug nie gekannte Wellen.

»Was war das gerade?«

»Beruhige dich. Das war überhaupt nichts.«

»Das war nichts? Das soll nichts gewesen sein?« Er kannte selbst seine hysterische Stimme nicht wieder, die in diesem Augenblick wie ein kochender Teekessel klang.

Trish griff über den Tresen, nahm sich eine volle Flasche Bakers und sagte: »Komm vor.«

Langsam ging er um den Tresen herum, sah immer wieder zurück und zu Trish. Sie schnappte seinen Arm und zerrte ihn zu ihrem Tisch. Er hatte nicht die Spur einer Chance, sich ihrer unglaublichen Kraft zu widersetzen.

»Keine Sorge, die Bar wird deswegen nicht schließen. Es gibt genug andere Leute, die seine Arbeit übernehmen. Außerdem wirst du ab sofort Wichtigeres zu tun haben, als hier sinnlos abzuhängen.« Sie drückte ihn grob auf den Stuhl und strich ihm eine Falte am Pulli glatt.

»Wer bist du?«, fragte er außer sich.

Sie verzog keine Miene. »Manche Leute kapieren es wirklich nie.« Sie setzte sich und trank von seiner Chamborlada. »Wenn ich dich nicht brauchen würde, könnte ich mir diese ganze Tortur ersparen. Also, noch einmal ganz von vorne. Sie bezeichnen mich als Abschaum des Tartaros ...« Sein Gesicht entstellte sich und sie verbesserte sich: »... oder deiner Hölle. Ganz wie du es willst. Ich möchte lediglich, dass du dich verliebst.«

»Nach allem, was passiert ist, willst du, dass wir uns verlieben?«

»Nein, Idiot. Doch nicht in mich.«

»Da bin ich aber erleichtert. Denn so eine Anmache wäre wirklich nicht allzu förderlich für eine Beziehung.«

»Glaub mir, es funktioniert. Aber darum geht es nicht, denn genau genommen reicht es, wenn sich die Person in dich verliebt.«

»Du willst mich verkuppeln? Hast du gerade den Barkeeper auf diese abartige Weise umgebracht, nur um mir jemanden vorzustellen?« Seine Stimme überschlug sich. Er sprang auf und stützte sich auf den Tisch.

»Du musst dich unbedingt beruhigen, sonst verstehst du kein einziges Wort von dem, was ich dir zu sagen habe.« Sie schnellte hoch und drückte ihn mit flinker Bewegung zurück in das Polster.

»Ich bin ruhig«, schrie er und atmete heftig.

Trish sah sich in der Lounge um. »Moment, ich glaube, du hast recht. So geht das wirklich nicht. Du kannst dich so überhaupt nicht konzentrieren.« Sie legte ihre flache Hand auf den Tisch und presste sie fest darauf. Schwarzroter Nebel stieg unter ihren Handflächen hervor, der langsam über den Tisch kroch. Feine Spitzen schossen wie stachelige Tentakeln daraus auf, die sich blitzschnell aufbauten und sofort wieder auflösten.

»Was machst du da?«, fragte Jaime nervös und sah ihre trüb gewordenen Augen. Ihre Pupillen waren nicht mehr zu sehen und es sah aus, als ob sich eine Schleimschicht darübergelegt hätte.

Der merkwürdige Nebel vermehrte sich und floss die Tischbeine hinunter, tropfte von der Platte ab und begann den Boden einzunehmen. Unerwartet schurrte ihr Stuhl zurück und landete krachend am Tisch hinter ihr. Sie erhob sich und breitete die Arme aus. Ihre blinden Augen gaben ihr einen furchteinflößenden Ausdruck. Der dunkle Nebel folgte ihr, floss ihre Beine hinab und hatte bereits die Nebentische eingenommen.

Trish begann leise zu singen und dirigierte zum langsamen Lied. Jaime kannte diese Sprache nicht. Es hörte sich wie antike Worte an, die niemand mehr beherrschte.

Aus allen erdenklichen Ecken der Lounge kroch der gleiche Nebel und lief an der Decke entlang und die Wände hinunter. Er verbreitete sich ebenso aus den Ritzen des Mobiliars und überzog inzwischen den gesamten Fußboden.

Jemand schrie auf. Ein schriller Knall beendete die Musik und Qualm stieg von der Anlage auf. Immer mehr Leute zappelten, schrien und sprangen in die Höhe oder auf die Barhocker, Stühle und Tische. Andere zogen an der Tür zum Ausgang, bekamen sie aber nicht auf. Hektisch liefen die Leute durcheinander. Der Nebel blitzte dunkelrot auf und griff mit seinen Tentakeln nach den Gästen, schoss in ihre Körper hinein. Ein Mädchen neben der Bar schmolz in sich zusammen, als ob es in den Boden versinken würde. Ein Junge, dessen Arm er vollständig eingenommen hatte, kämpfte mit dem Nebel, der ihm ins Gesicht schnellte, durch seinen Mund eindrang und seine Haut in wenigen Sekunden schwarz färbte. Schreiend kippte er zur Seite und tauchte im zornigen Sumpf ab.

Jemand flüchtete zu den Toiletten und wurde von einer schwarz glühenden Nebelwand dahinter empfangen, die sich über ihn stülpte und mit in die Dunkelheit riss.

Inzwischen hatte sich der aggressive Nebel über die Wände und alles in der Lounge gelegt. Jämmerliche Schreie sangen das Lied des Todes und verzerrte Gesichter tanzten dazu.

»Hör auf damit!«, schrie Jaime. »Lass die Leute in Ruhe.«

Trish reagierte nicht. Ihr Gesang wurde lauter und schneller und der Nebel stieg auf Hüfthöhe an, erwischte jeden im Raum, löste die Leute auf und nahm ihre kläglichen Schreie mit sich. Nur um ihren Tisch war der Boden noch frei davon.

»Was ist das?«, schrie er und rüttelte sie heftig am Arm.

 Sie war standhaft wie eine schwere Statue, die sich nicht bewegen ließ. Dann hörte sie auf zu singen, ihre Augen wurden klar und die Pupillen kamen zurück. Der Nebel floss von den Wänden und der Ausstattung ab, legte sich auf den Boden und verzog sich träge. Trish blickte zur doppelflügeligen Ausgangstür, die scheppernd aufsprang. Ein kräftiger Luftzug trug die abgestandene Luft nach draußen. Die flackernden Strahler über der Bühne explodierten nacheinander und das Deckenlicht wurde heller. Dann schlug die Tür zu und überließ die Lounge der Stille.

Jaime fröstelte und sein Atem kondensierte. Er wärmte sich selbst mit den Armen, rieb sich darüber und zog seine Jacke über. Was er gerade gesehen hatte, erreichte nur schwerlich seinen Verstand. Diese Situation war überaus abstrus und er hatte das Gefühl, mit Drogen vollgepumpt zu sein. Er hielt seine Hand nach vorne und nahm ihre Maße zwischen Daumen und Zeigefinger in der gedachten Linie.

»Was treibst du da, Mensch?«

»Wenn ich ein Problem sehe, erfasse ich es mit meinen Fingern und mir wird bewusst, wie klein es aussehen kann. Das gibt mir den Mut, nicht aufzugeben.«

»Du bist ein Idiot«, sagte das unscheinbare Mädchen, setzte sich, schraubte den Bakers Whiskey auf und schurrte ihn über den Tisch. Kurz vor der Tischkante blieb er stehen. Jaime zeigte keine Reaktion und gaffte starr auf die Flasche.

»Trink einen Schluck von dem Teufelszeug.« Ihr Lachen hatte einen merkwürdigen Hall, wirkte unheimlich und passte nicht zu der zierlichen Gestalt.

Ängstlich tat er, was sie von ihm verlangte, und kippte sich einen großen Schluck davon in den Mund.

»So. Haben wir jetzt endlich verstanden, wer ich bin?«

Entsetzen stand in seinen Augen. Dagegen wirkte sie äußerst entspannt. »Na, Mensch?«

»Trish aus der Hölle«, sagte er eingeschüchtert.

»Na endlich. Geht doch. Weißt du, die meisten Menschen glauben, dass über dem Bösen stets eine dunkle Regenwolke schwebt. Doch bei mir ist es andersherum. Denn ich stehe in der Sonne, während die anderen im Sturm versinken.«

»Du bist wirklich übel.«

»Vielleicht bin ich ein bisschen wie Rumpelstilzchen, nur dass ich nicht darauf warte, dass du meinen Namen errätst. Ich hole mir auch so dein erstgeborenes Kind und wenn es sich ergibt, den Rest deiner Familie dazu.« Schmunzelnd verschränkte sie ihre Arme.

»Ist das gerade wirklich passiert?«

»Für diesen Fall darfst du deinen Sinnen vertrauen. Okay, du wirst noch eine Weile brauchen, bis du es richtig verstehst, aber solange wir zusammen sind, wirst du dich daran gewöhnen müssen.«

»Sind alle tot?«

Sie schmunzelte zufrieden. »Ich liebe es, Menschen zu vernichten und alles, was sie erschaffen haben. Es fühlt sich verdammt gut an und hat etwas Großartiges, Wichtiges, Vollkommenes und Erlösendes. Manchmal streife ich einfach durch die Straßen, breite meine Arme aus und genieße, wie hinter mir die Stadt in einem wunderschönen Chaos versinkt.« Sie wirkte verträumt und sehnsuchtsvoll.

»Du bist total irre.«

»Vielleicht nach deiner jämmerlichen Definition. Ab sofort befindest du dich in den Sphären der Götter. Na ja, in meiner Gesellschaft eher in denen des Tartaros und der ewigen Verdammnis.« Sie lächelte verschmitzt und blinzelte ihm kokett zu.

»Weißt du, wie viele Menschen du umgebracht hast?«

»Ich habe schon lange aufgehört zu zählen.«

»Eigentlich meinte ich hier und jetzt. Aber du machst das wohl schon eine Weile?«

»Ich kann es einfach nicht lassen. Jede Seele macht mich ein klein wenig stärker. Was bei den Göttern die Liebe ist, sind bei mir die Seelen. Ich kann nichts dafür, Mensch.«

»Ich ertrage das nicht. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich habe große Angst. Bitte, lass mich gehen.«

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dich gehen lasse, nachdem ich so lange nach dir gesucht habe. Das ist ein ganz schlechter Einfall. Zeige ein wenig mehr Rückgrat, springe mir an die Kehle und verteidige die Menschheit, schrei mich an oder schlage mich und sitze nicht wie ein elendes Häufchen Unglück herum und jammere mir die Ohren voll.«

Er starrte sie nur an.

»Herrgott. Du bist ganz blass. Fang mir jetzt bloß nicht an, zu hyperventilieren.« Sie ging um den Tisch zu ihm.

Ausweichend lehnte er sich zurück. Sanft nahm sie seine Wangen zwischen ihre Hände und küsste ihn auf die Lippen. Ihr süßlicher Atem war angenehm und er spürte ihre kalte Haut. Dann bahnte sich ihre Zunge den Weg in seinen Mund und er hatte kaum die Kraft, sich dagegen zu wehren. Auch ihre agile Zunge war überaus kalt, doch sie war weich und schmeckte betörend nach Himbeeren und Zuckerwatte.

Mit zusammengeschobenen Augenbrauen sah er ihre reine Haut dicht vor sich und wie sie sich mit geschlossenen Augen um ihn kümmerte, den Kopf wild drehte und sich wie in Ekstase befand.

Unerwartet schnellte sie zurück, stemmte die Arme in die Hüfte und sagte laut: »Du musst schon ein wenig mitmachen. Glaubst du, ich mache das zum Spaß?«

»Ich ... Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, stotterte er.

Trish lächelte liebevoll, schob ihre Hand über die Hüfte und hob ihren Pullover an. Aufreizend präsentierte sie ihm eine runde, feste Brust. Sie nahm seine Hand und drückte sie darauf.

Jaime schluckte, spürte ihre weiche, kalte Haut und vergaß für den Moment tatsächlich die vielen toten Leute. Wieder näherte sie sich seinem Mund und küsste ihn leidenschaftlich. Seine allgemeine Scheu erlaubte es nicht, dass er sich spontan darauf einließ. Stattdessen lag seine Hand reglos auf ihr, als gehörte sie dort hin. Nur den Kuss erwiderte er mit langsamer Bewegung seiner Zunge. Ihre Anmut bannte sich in sein Herz und vernebelte den Geist. Ihm blieb keine andere Wahl, als sie fest zu umarmen, zu halten und zu spüren. Mit geschlossenen Augen ergab er sich der Verführung.

Selbstgefällig ließ sie sich auf seinen Schoß fallen, umschlang seinen Körper, wühlte durch die Haare, schlängelte sich mit ihren Beinen um seine und fing an, lustvoll auf ihm zu reiten. Dabei stöhnte sie leise.

Zart umfasste er ihre Hüfte und fuhr über ihren Rücken nach oben. Sie drängte ihn weiter nach hinten, rieb fest über seinen Körper und strich ihm gierig über die Wangen. Ihre Hände schienen überall zu sein und die Welt begann, sich um ihn herum schneller zu drehen.

Der Stuhl kippte.

Gemeinsam schlugen sie auf den Boden und rollten auseinander. Schon stand sie neben ihm und reichte ihre Hand nach unten. Zögerlich griff er danach und wurde kraftvoll auf die Beine gestellt.

»Das müssen wir noch üben«, sagte sie.

Verlegen strich er sich über den Hinterkopf. »Du bist ziemlich direkt. Das hat mich überrascht, aber es gefällt mir. Vielleicht könnten wir beide zusammen gehen?«

»Was? Du denkst, ich stehe auf dich?«

Er nickte kaum merklich und hoffte so sehr, dass es wirklich so war.

»Für so etwas brauche ich keine Menschen. Und wenn ich doch mal einen als Spielzeug verwende, überlebt er es nicht.« Ihre Stimme war kühl, auch wenn Jaime darin die wärmende Sonne erkannte, die freilich weit weg war und eine gehörige Portion Einbildungskraft benötigte.

»Vielleicht würde ich das in Kauf nehmen?« Seine Stimme war kaum hörbar. Er wog seine eigenen Worte ab und fand, dass sie jedes Risiko wert war.

Sie lachte, zog ihren Pullover ordentlich zurecht und strich sich über die Hose. »Na, glaubt man es denn? Da steckt wohl ein kleiner Casanova in dem schüchternen Menschen drin?« Ihre Hand schnellte vor und stieß gegen seine Schulter. »Ich verspeise dich zum Nachtisch, Kleiner.«

Er räusperte sich. »Kannst du mir sagen, warum du mich verkuppeln willst? Wer ist sie und wieso ich?«

»Du bist genau der Typ, auf den eine mächtige Göttin abfährt. Also wirst du mich nach Griechenland begleiten.«

»Aber das liegt in Europa.«

»Ja, wo denn sonst?«

»Ich habe jetzt keine Zeit zu verreisen. Können wir das in den Ferien machen oder wenn ich ein paar freie Tage bekomme?«

Sie blickte ihm direkt in die Augen. Dieser Anblick war durchdringend und schmerzte beinahe wie ein Elektroschock.

»Heute?«, fragte er ergeben.

»Genau jetzt.«

»Dann werde ich keine Zeit mehr zum Packen haben?«

»Die bekommst du. Kleide dich an, um wenigstens halbwegs einer Göttin gerecht zu werden.«

»Das klingt irgendwie abschätzig. Warum ich? Warum suchst du dir nicht irgendeinen feinen Lord oder Milliardär, der ihr gerecht wird?«

»Weil sie genau auf solche Idioten wie dich steht.« Erniedrigend zeigte sie mit der flachen Hand auf ihn.

»Danke«, sagte er sarkastisch. »Und wer ist sie?«

»Ihre Herkunft ist etwas kompliziert. Ich werde es dir grob erklären, damit du halbwegs verstehst, um was es geht. Also, ihre Mutter wurde als Mensch geboren und ist als Mensch gestorben, aber dazwischen war sie eine angesehene und überaus einflussreiche Göttin. Diese menschliche Seite ist auch bei ihrer Tochter sehr dominant. Zumindest, was ihr Interesse betrifft. Setz dich.« Sie richtete den Stuhl auf und schob ihn vor den Tisch. Ohne Gegenwehr folgte er ihrem Befehl.

»Wie heißt sie?«

»Kate Neverate. Weißblonde Haare, makelloses Gesicht und ein wahrhaft göttlicher Körper. Ihre Schönheit diente den Bildhauern und Malern als Vorbild, ihre Intelligenz überragt die der Götter, wie es seit über eintausend Jahren nicht mehr geschah. Bla, bla, bla.«

»Kennst du sie persönlich?«

»Zum Glück nicht. So eine Gesellschaft ist nichts für mich. Wäre ja noch schöner, wenn ich ständig mit einer Brechschüssel herumlaufen müsste.«

»Und dennoch willst du mich mit ihr zusammenbringen.«

»Das hat andere Gründe.«

»Die du mir nicht anvertrauen willst.«

»Exakt.«

»Kannst du mir sagen, wie eine Göttin zu einem Menschen werden kann, so wie ihre Mutter?«

»Amathia wurde mit dem halben Herz eines Stieres bestraft, welches sie ihr eingesetzt haben. Die andere Hälfte bekam übrigens ihr Mann Charon, der einstige Herrscher der Unterwelt. Sie starb, als das Herz zu alt wurde, und ihn hat man angeblich im Tartaros gesehen. Aber das tut für unsere Aufgabe nichts zur Sache.«

»Kannst du mir mehr über Kate erzählen? Wer ist sie?«

»So mag ich dich. Du wirst noch eintausend weitere Fragen haben, aber bedenke, dass ich dir nur das beantworte, was ich will. Also, Kate war seinerzeit die mächtigste Nachwuchsgöttin im Olymp und sollte den Thron des allmächtigen Zeus übernehmen.«

»Was heißt seinerzeit? Wie alt ist sie denn?«

»Kate Neverate ist mit ihren einhundertneunundneunzig Jahren eine der jüngsten Gottheiten des Olymp.«

Jaime stützte seinen Kopf auf und sagte niedergeschlagen: »Na toll.«

»Zeig ein bisschen mehr Enthusiasmus, Mensch. Nicht jeder erhält die Chance, eine edle Göttin kennenzulernen.«

»Nun, du bist ja auch schon fast so alt. Da darf ich noch hoffen.«

»Du wirst von ihrer Anmut begeistert sein. Sie ist kein schlechter Fang. Und mache dir wegen ihres Alters keine Gedanken. Für einen Menschen sieht sie wie eine Zwanzigjährige aus.«

»Aber ich wollte immer nur ein einfaches Mädchen, was zu mir passt. Wir würden uns lieben und bis ans Ende unserer Tage zusammenhalten.«

Trish blinzelte ihm kokett zu und schmunzelte. »Schweig jetzt und höre mir genau zu.«

Er nickte und machte es sich mit verschränkten Armen bequem.

»Im schwersten Krieg, nach der Goldenen Ära, in der Verbrechen, Laster und Kriege noch nicht existierten, wurden die Titanen in den entferntesten Winkel des Tartaros getrieben und mit einem Fluch belegt, um den alten Konflikt zwischen den Göttern für immer zu besiegeln. Fortan herrschten die Olympier unter der Sonne, dem Himmel und der Erde.

Vor dem aktuellen Konflikt gediehen die Welt und Eros, Uranos und Nyx überaus prächtig. Sie erlangten die vorhergesehene Eleganz der vergangenen Epochen zurück. Die Kräfte der Unterwelt und der Finsternis hielten sich in diesen Zeiten weitestgehend aus den Entscheidungen des Hohen Rates heraus. Völlige Einigkeit und Harmonie verbanden sich mit der vertrauten Ordnung.

Als schließlich die Zeit gekommen war und der alte Fluch über die Titanen einen schrecklichen Teil seiner Macht verloren hatte, begehrten die Titanen dessen Aufhebung. Mit den Plänen einer Neubesiedlung in der Hand wollten sie fernab des Olymp ihr Volk neu ordnen und marschierten zu den heiligen Hallen. Nur der mächtige Zeus und höchste Gott des Rates war in der Lage, diesen Fluch aufzuheben.

Nur wenige Stunden bevor die Titanen den Olymp erreichten, wurde Zeus von einem Sterblichen getötet. Dieser Tage war nur noch das Orakel, die allmächtige Pythia, in der Lage, diesen Fluch zu brechen. Doch sie hatte sich mit den Göttern zerstritten, längst von ihnen abgewandt und lebt seit vielen hundert Jahren zurückgezogen und unauffindbar unter den Menschen auf der Erde.

Dieser Konflikt entflammte erneut den Zorn zwischen den mächtigen Kräften. Und, genau wie es zu alten Zeiten war, schlossen sich auch diesmal die Zyklopen und die einflussreichen Geschwister des Zeus den Göttern des Olymp an. Bereits in den ersten Tagen des Krieges wurden die drei hunderthändigen Hekatoncheiren befreit, die wegen ihrer rasenden Gier auf Menschenfleisch seit tausenden von Jahren im Tartaros gefangen gehalten wurden. Niemand rechnete damit, dass sie lediglich eine einzige Schlacht an der Seite der Götter kämpfen würden, bevor sie dem Heer den Rücken kehrten und irgendwo untertauchten. Da sie noch immer wild und ausgehungert waren, vermutete Atlas, der den Thron nach dem Tod von Zeus übernommen hatte, diese Gestalten auf der Erde. Jemand wollte sie Jahre später nahe einer Höhle auf Kreta gesehen haben. Einer Höhle, in der Zeus´ letzter Sohn aufgewachsen war.

Genau an diesen Ort führte der Weg Kate Neverate. Und jetzt, Mensch, pass genau auf und merke dir die Namen. Sie ist die Tochter der mächtigen Meeresnymphe Amathia und dem einstigen Gott der Unterwelt Charon. Kate war ihr ganzes Leben lang auf der Suche nach ihrem Sohn Galeno, einem Sohn von Zeus, den sie im Tartaros gebar und der ihr dort entrissen wurde. Kate selbst wurde an ihrem neunzehnten Geburtstag auf die Erde verbannt, wo sie nahezu ununterbrochen lebt.

Zeus war damals die einzige Verbindung zu ihrem Sohn. Nur er alleine kannte das Versteck. Doch dieses Geheimnis nahm er mit in sein Grab. Seither pilgerte Kate durch die Lande und folgte den grausamen Taten, Gerüchten und den Geschichten der Leute.

Die Zeit verging, bis sie ihre Bestimmung auf Pythia stoßen ließ, die ihr den Weg nach Kreta wies. Und genau wie Pythia es gesagt hatte, fand Kate in der Lasithi-Hochebene die besagte Höhle. Doch sie kam zu spät.

Kate vermutete, dass Galeno Neverate fernab liebevoller Kontakte zu den Göttern oder den Menschen und in gänzlicher Abgeschiedenheit in der Wildnis aufgewachsen war. Sie hörte von den alten Sagen, von unheimlichen Vorkommnissen und dem unerklärlichen Verschwinden der Menschen, die sich in dieser Region konzentrierten.

Ganze siebzehn Monate verbrachte sie am Rande der Hochebene, um den Spuren ihres Sohnes zu folgen. Sie wollte verstehen, wie er aufgewachsen und was für ein Gott aus ihm geworden war. In Mitgefühl und tiefer Trauer verbrachte sie die letzten Jahrzehnte in völliger Abgeschiedenheit auf einer kleinen Insel in dessen Nähe. Doch davon haben wir erst jetzt erfahren, denn die Götter verloren für lange Zeit ihre Spur, als sich die Jahreszeiten über das Land legten und ihre Existenz und die Unsterblichkeit ins Belanglose abdrifteten. Nur Zealot, ein zotteliger Papagei, der Kate von dem Tag an begleitet, als ihr Mann diese Erde verließ, blieb an ihrer Seite.

Ihr Mann, Luan Hensley, war ein gewöhnlicher Sterblicher, genau wie du es bist, Jaime. Damit wiederholte sich das Geschehen ihrer wahren Eltern.

Luan Hensley hatte ihr in schweren Zeiten beigestanden und erreicht, was niemals einem Menschen vor ihm zuteilgeworden ist. Er wurde vom Hohen Rat in den Olymp eingeladen, wo er für die Menschheit und Kate eintreten musste und im Zuge eines ungleichen Kampfes den Olymp für alle Zeiten veränderte. Es war der Tag, an dem Zeus starb.

Kates Vater verlieh ihm daraufhin den göttlichen Titel ›Luan vom Schicksalsberg, der Mensch, der Zeus besiegte‹. Ihm wurde für die Zeit nach seinem Tod ein Platz am Firmament neben den Göttern des Sternzeichens Orion reserviert. Wenn es dunkel wird, zeige ich dir diesen Stern. Damit kannst du Kate sicherlich beeindrucken.

Es gibt Gerüchte, dass die Seele von Luan in Zealot weiterlebt und Kates letzten Halt im Universum darstellt. Aber das Leben auf der Erde besteht nun mal aus der Vergänglichkeit und seine Kräfte werden in diesen Tagen versiegen. Genau zu diesem Zeitpunkt wirst du in ihr Leben treten und ihr zeigen, wie wundervoll diese Welt sein kann, bevor die Einsamkeit über sie hereinbricht.

Des Weiteren ist mir zu Ohren gekommen, dass sie in diesen Tagen von einem mächtigen Gott kontaktiert wird. Dabei handelt es sich um eine höchst delikate Angelegenheit und für mich wird es höchste Zeit zu handeln.«

»Aber was soll ich tun?«

»Nichts. Du sorgst einzig und alleine für ihre Liebe zu dir.«

Jaime senkte den Kopf. »Ich schaffe es ja nicht einmal, ein Mädchen richtig anzusprechen.«

»Dann gebe ich dir ein paar Trainingsstunden, Jaime Richmond.«

»Was muss ich noch wissen?« Jaime war niedergeschlagen.

»Zunächst genügt es, wenn du die Grundlagen über die Götter und Kates Stammbaum verstehst. Wir sind noch eine Weile zusammen und ich werde dich unterrichten. Der Rest wird sich ergeben, wenn du sie erst einmal kennst.«

»Also fliegen wir nach Kreta?«

»So soll es geschehen. Ach, und noch eins, Mensch. Wenn du diese Aufgabe aus irgendwelchen Gründen abbrechen möchtest oder sie nicht akzeptabel erfüllst, solltest du dir den Barkeeper ins Gedächtnis zurückrufen und darüber nachdenken, ob du so enden willst wie er.«

Ängstlich starrte er sie an und schüttelte mit dem Kopf.

»Gut. Ich denke, es kommt heute niemand mehr für die Rechnung, oder was meinst du?« Ihr Lächeln wirkte selbstgefällig. »Lass uns aufbrechen.«

+++ +++ +++

Textprobe: Perry Payne

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