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Cover Das Zugticket von Monica Heinz    Leseprobe "Das Zugticket"

von Monica Heinz

Taschenbuch, ca 228 Seiten, ISBN: 978-3-96050-188-6

1

Das Postauto stoppte auf dem Marktplatz. Anna stieg aus und stolperte im nächsten Augenblick. Es gelang ihr gerade noch sich aufzufangen, und als sie hochblickte, sah Anna sie. Sie, das war eine rote Handtasche. Anna stand vor dem Schaufenster und starrte die Tasche an. Es war Liebe auf den ersten Blick. Rotes, glattes Leder und ein goldener Verschluss. Dabei bemerkte sie nicht, wie sie den Leuten mitten auf dem Trottoire im Weg stand; zweimal wurde sie unsanft angerempelt. Das kleine Preisschild, das an einem Faden um den Henkel geschlungen war, konnte sie trotz aller Verrenkungen nicht lesen. Leider hatte der Laden zu; er war nur am Dienstag, Donnerstag und Freitag geöffnet. »Macht nichts, die ist sowieso viel zu teuer«, flüsterte sie.

»Wie bitte?« Der Mann, der eben an ihr vorüberging, sah sie fragend an.

Anna gab keine Antwort, drehte sich um und ging in Richtung der Bushaltestelle, von wo der Bus zum Einkaufszentrum fuhr. Eigentlich hatte sie ja vorgehabt, die Fenster zu putzen und die Vorhänge zu waschen, aber Ulrich liebte Grilladen, und im Supermarkt gab es das dazu benötigte Fleisch diese Woche zum halben Preis.

Das wäre ein tolles Geburtstagsgeschenk gewesen, dachte sie und war plötzlich traurig. Ihr fünfzigster Geburtstag, am 22. Februar, lag nun fast zwei Monate zurück. Sie hatten ihn wie alle Familienfeiern im »Löwen« gefeiert, und obwohl sie eigentlich im Mittelpunkt hätte stehen sollen, war sich Anna den ganzen Tag über fehl am Platz vorgekommen. Iris, die dort arbeitete und die mit Anna zur Schule gegangen war, hatte sie schon beim Reinkommen von oben bis unten gemustert. Annas Bluse war neu gewesen, aber das dunkelblaue Kostüm uralt und aus der Mode. Iris hingegen trug wie immer einen kurzen Rock und eine zu enge Bluse. Anna hatte einen Schritt gegen die Wand gemacht, als sie Iris’ Blicke spürte. Sie wusste auch, was die Blicke bedeuteten, denn mit Iris hatte Ulrich einmal eine Affäre gehabt.

Nun konnte sich Anna nicht einmal mehr erinnern, was sie gegessen hatte, außer dass sie lustlos im frischen Fruchtsalat aus der Dose herumgestochert und gedacht hatte: Eigentlich wäre es ja mein Tag. Sie war fast froh gewesen, als ihre Schwiegermutter aufbrechen wollte, weil sie sich hinlegen musste. Natürlich hatte Ulrich sie heimgefahren. Anna war alleine zu Fuß nach Hause gegangen.

Ulrich hatte ihr ein goldenes Kleeblatt geschenkt. Es war vom Schmuckstand im Warenhaus, Anna hatte die Schachtel erkannt und Ulrich geradezu vor sich gesehen, wie er kurz vor Ladenschluss ins Warenhaus gehetzt war und wahllos, nur auf den Preis achtend, auf ein Schmuckstück gedeutet hatte. Ihre Kinder hatten ihr einen Gutschein für einen Wellnesstag geschenkt, die Krankenkasse hatte gratuliert, und ihre Nachbarin hatte einen bereits gelesenen Roman weiterverschenkt. Auch das Geschenk ihrer Schwiegermutter war nicht für sie ausgesucht worden, denn sie hatte Anna den Schal mit den Worten: »Rot steht mir nicht« überreicht. Wenigstens war er rot, dachte Anna nun.

Von der anschließenden Heimfahrt bekam sie nichts mit, und erst als der Buschauffeur wiederholt »Endstation« ins Mikrophon schrie, merkte sie, dass sie zu Hause war. Sie hatte den ganzen Heimweg nur an die Tasche denken können. Seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie nie mehr etwas so sehr gewollt wie diese Tasche, damals war es eine Puppe mit echtem Haar gewesen. Zweimal hatte sie voller Hoffnung die Geschenke ausgepackt und enttäuscht etwas anderes in den Händen gehalten, zuerst an ihrem Geburtstag und dann noch einmal an Ostern. Erst an Weihnachten wurde ihr sehnlichster Wunsch erfüllt. Später erfuhr sie den Grund für das lange Warten, ihre Eltern hatten sich während fast einem Jahr eingeschränkt, um die Puppe kaufen zu können. Ihr Vater verzichtete auf ein zweites Bier nach dem Kegeln, und die Mutter hatte, wo immer sie nur konnte, bei den Lebensmitteln gespart. Alles nur, um Anna den sehnlichsten Wunsch zu erfüllen.

An der Haustüre steckte sie automatisch den Schlüssel ins Schloss, und als es klickte, machte es auch bei ihr »Klick«. Sie musste die Tasche haben, egal wie, und selbst wenn sie diese nur zuhinterst im Schrank aufbewahren würde.

Danach vergingen zwei Wochen, bis Anna erneut in die Stadt fuhr. Es war jedoch kein Tag vergangen, an dem sie nicht an die Tasche gedacht hatte.

Sie hatte den ganzen Vormittag im Garten mit Jäten und Gießen verbracht. Dann musste sie, um an eine Hacke zu kommen, den Grill verschieben, und ihr kam in den Sinn, dass Ulrichs Lieblingswürste ausgegangen waren. Kurzentschlossen zog sie sich um und lief zur Postautohaltestelle. Auf dem Weg fiel ihr plötzlich noch etwas anderes ein, es war Donnerstag. Diese Tatsache ließ sie fast zur Haltestelle rennen, donnerstags war der Secondhandladen geöffnet. Sie wollte die Tasche wenigstens einmal in der Hand halten, und vielleicht würde dann ihr Wunsch sie zu besitzen verschwinden. Schon von weitem sah sie das verzierte Schild »OPEN« und auf dem Trottoir standen diesmal Kleiderständer. Die Ladentüre bimmelte leise, als Anna sie aufschob.

»Guten Tag, die rote Tasche im Schaufenster, dürfte ich vielleicht …?«  Ihre Stimme klang ganz rau, sie hatte den ganzen Morgen mit niemandem gesprochen.

»Natürlich, sehr gerne.« Die Frau im schwarzen Strickkleid und der Kette mit den großen Holzkugeln schob die anderen Sachen zur Seite und reichte Anna die Tasche. Anna nahm sie entgegen, als ob sie zerbrechlich wäre.

»Schauen Sie sich die Tasche in Ruhe an, ich bin hinten.« Die Frau verschwand wieder hinter das Regal, wo sie mit Einräumen beschäftigt gewesen war.

»Danke.« Anna stellte ihre eigene braune Kunstlederhandtasche auf den Boden, sie schämte sich dafür, aber bis jetzt hatte sie ihren Dienst getan.

Die rote Tasche sah aus wie neu, sogar das Leder roch noch. Ein Geruch, den Anna liebte. Sie konnte nicht anders, als immer wieder an der Tasche zu riechen. Das Innenfutter war blau-rot gestreift, auch das gefiel ihr. Anna drehte und wendete sie, dann blickte sie verstohlen auf das Preisschild: Fr. 85.—. Das konnte doch nicht sein, da musste eine Null fehlen, sie war sich ganz sicher. Vorsichtig strich sie über das glatte Leder und spiegelte sich in der goldenen Schnalle. Was aber, wenn der Preis stimmte? Trotzdem, Fr. 85.‒ waren eine Menge Geld für eine Tasche, so viel gab sie ja nicht einmal für ein Paar Schuhe aus. Sie merkte nicht, wie Brigitte Hauser, die Inhaberin des Ladens, immer wieder zu ihr herübersah. Nach einer Weile fragte sie:

»Und, haben Sie sich entschieden?«

Anna zögerte nur einen Moment und sagte dann: »Ja, ich kaufe die Tasche. Seit ich sie vor zwei Wochen gesehen habe, konnte ich an nichts anderes mehr denken. Ich werde wohl kaum Gelegenheit haben, sie je zu benutzen, aber ich muss sie haben wie damals die Puppe.«

»Die Puppe?«

»Ja, eine mit echtem Haar, die wollte ich genauso wie jetzt die Tasche.«

»Haben Sie die Puppe gekriegt?«

»Ja, aber ich musste sehr lange darauf warten. Ich besitze sie heute noch.«

Anna zog einen Geldschein aus ihrer Tasche. »Sind Sie sicher, dass sie wirklich nur fünfundachtzig Franken kostet?«

»Ja, natürlich, sie ist ja auch nicht mehr neu.«

»Aber doch wohl kaum gebraucht, oder?«

»Ja, das stimmt wohl, aber die Kundin, die sie abgegeben hatte, meinte, sie wolle sie nicht mehr und sie solle einer anderen Frau mehr Glück bringen.«

»Entschuldigung, was haben Sie eben über Glück gesagt?« Anna hatte vor lauter Aufregung gar nicht richtig zugehört.

»Ach, nichts, nur dass ich die Kundin nicht gekannt habe und mich auch ein wenig gewundert hatte, wie man so eine Tasche weggeben kann.«

Brigitte Hauser verschwand mit der Tasche nach hinten, und als sie wieder nach vorn kam, war die Tasche in Seidenpapier gewickelt. Sie steckte das Paket in eine große goldene Tüte und stellte ihn auf die Theke.

»So, nun hoffe ich, Sie finden ganz viele Gelegenheiten, zu denen Sie die Tasche mitnehmen können.«

Sie schob Anna die Tüte hin, diese machte jedoch einen Schritt zurück und drehte unschlüssig die Banknote in ihren Händen. Brigitte Hauser wartete geduldig.

»Oh, Entschuldigung.« Anna glättete den Geldschein und streckte ihn Brigitte hin, er rollte sich und war feucht. Erst nachdem sie das Wechselgeld umständlich verstaut hatte, nahm Anna endlich die Tüte.

2

Wieder zuhause versteckte Anna die Tasche in einem alten Kleidersack zuhinterst im Schrank. Sie hatte die Schranktüre gerade wieder geschlossen, als Ulrich nach Hause kam und nach ihr rief. Als er ins Schlafzimmer kam, hatte er sie nur komisch angesehen und sich dann schweigend umgezogen.

Ihr Herz hatte wie wild geklopft, ein paar Minuten früher – und Ulrich hätte den Sack gesehen. Schnell hatte sie sich an ihm vorbeigeschoben und war in die Küche gegangen, um mit der Zubereitung des Abendessens zu beginnen. Zu allem Übel ließ sie dann auch noch eine Glasschüssel fallen und schnitt sich an den Scherben. Als sie den Finger unters Wasser gehalten und gemurmelt hatte:

»Nimm dich zusammen, Anna!«, war Ulrich in die Küche gekommen und wollte wissen, mit wem sie sprach.

»Mit mir selbst, es hat gebrannt, als ich die Wunde unters Wasser hielt.«

Schnell drehte sie das Wasser zu, und gleichzeitig versuchte sie, das Radio leiser zu stellen, was ihr natürlich auch misslang, sie drehte in die falsche Richtung. Ulrich verdrehte genervt die Augen und verließ die Küche. Vom Wohnzimmer aus rief er: »Wann ist das Essen fertig? Du weißt, ich habe noch Gemeinderatssitzung.«

»Gleich, nur noch die Salatsauce, dann können wir essen.«

Ulrich erwartete jeden Abend ein Dreigangmenü, über Mittag aß er nur ein mitgebrachtes Sandwich. Die Kantine sei lausig und teuer. Jahrein, jahraus dasselbe Sandwich zu essen fand er aber okay.

Während des Essens hielt Ulrich einen Monolog über die bevorstehende Sitzung und was er alles vorbringen werde, er merkte nicht, dass Anna kaum etwas sagte und nur in ihrem Essen herumstocherte. Ängstlich beobachtete sie ihn, ob er nicht doch etwas bemerkt hatte. Nach dem letzten Schluck Kaffee warf er die Serviette mitten auf den Teller und verschwand im Bad. Fünf Minuten später rief er auf dem Weg nach draußen. »Es wird wohl spät, gute Nacht.« Anna blieb sitzen, bis die Türe ins Schloss gefallen war. Er behandelte sie wie eine Haushälterin. Sie nahm die mit Bratensauce getränkte Serviette vom Teller, warf sie in die Schmutzwäsche, stellte das Geschirr in die Maschine und ging ins Schlafzimmer. Dann ging sie nochmals zurück, schloss die Haustüre ab und ließ den Schlüssel stecken, sie durfte einfach nicht vergessen ihn herauszuziehen, bevor sie ins Bett ging.

Im Schlafzimmer holte sie die Tasche aus dem Schrank und stellte sich damit vor den Spiegel. Die Tasche war wunderschön, aber an ihrem Arm wirkte sie deplatziert; trotzdem wollte sie sehen, wie es sich anfühlte, so eine Tasche zu besitzen.

Sie nahm ihre alte braune Tasche und leerte den Inhalt aufs Bett. Viel war es nicht, was sie mit sich herumtrug, das Portemonnaie, das Handy, Taschentücher, ein kleines Etui mit Pflaster, einen Kamm und einen Spiegel. Die paar Dinge verschwanden in der Tiefe der Tasche. Sie öffnete das Reißverschluss-Fach und wollte den Kamm und den Spiegel reinschieben, als sie auf etwas stieß, auf einen Umschlag. Er war aus rotem Glanzpapier und ziemlich dick. »Royal Scotsman«. Was war das, und was machte der Umschlag in ihrer Tasche?

Vorsichtig zog sie die Papiere, die darin waren, heraus. Eine bunte Broschüre, mit Bildern, einer Reiseroute und ganz zuhinterst Vouchers für Flug- und Zugtickets. Nirgends stand ein Name. Die Tickets mussten der Vorbesitzerin der Tasche gehört haben, sie musste sie zurückbringen.

Es war bereits weit nach Mitternacht, als Ulrich heimkam. Anna hatte noch nicht geschlafen, doch nun stellte sie sich schlafend. Nach solchen Sitzungen war Ulrich meist nicht mehr nüchtern, und es war schon oft passiert, dass ein falsches Wort von ihr, wenn er heimgekommen war, zu einem riesigen Streit geführt hatte. Eine Viertelstunde später lag er schnarchend neben ihr, nun würde sie erst recht nicht einschlafen können.

Am nächsten Morgen legte Anna ihm wortlos ein Aspirin neben den Frühstücksteller. Ulrich sprach morgens nie viel, aber heute war er noch schweigsamer als sonst. Er schluckte das Aspirin mit einem Schluck Kaffee und schob den Teller mit einem »Nicht hungrig« zur Seite. Eine halbe Stunde später verabschiedete er sich, und Anna atmete auf.

In den letzten Jahren hatte Ulrich begonnen, immer mehr zu trinken. Anna hatte ein paar Mal versucht herauszufinden, was der Grund war, er hatte es jedoch immer heruntergespielt. Nur einmal, als es ihm besonders schlecht gegangen war, hatte er Probleme in der Firma erwähnt, auf Annas Nachfragen später aber gemeint, sie hätte mal wieder nicht richtig zugehört. Trotzdem hatte Anna sich Sorgen gemacht und war noch mehr darauf bedacht gewesen, alles richtig zu machen und ihn nicht noch zusätzlich zu ärgern. Ulrich stammte aus einer Familie, in der keine Gefühle oder Schwächen gezeigt wurden. Ihre Schwiegermutter war genauso, sie hatte nicht einmal geweint, als ihr Mann gestorben war.

Als Brigitte Hauser kurz vor 9.30 Uhr um die Ecke bog, stand Anna bereits vor der Türe, sie ahnte nichts Gutes. »Guten Morgen, ist etwas mit der Tasche nicht in Ordnung?«

»Guten Morgen, doch, doch, mit der Tasche ist alles in Ordnung, aber gestern, als ich sie probehalber eingeräumt habe, da ...«

»Kommen Sie doch erst einmal herein.«

Anna trat hinter Brigitte in den Laden und blieb wie angewurzelt bei der Türe stehen. Brigitte zündete das Licht an und legte ihre Sachen ab, bevor sie den Umschlag, den Anna ihr entgegenstreckte, endlich nahm.

»Was ist das?«

»Den habe ich in der Tasche gefunden.«

»Aha.«

»Ja, es sieht aus wie ein Gutschein für eine Reise, der muss der früheren Besitzerin der Tasche gehört haben. Können Sie ihn ihr zurückgeben?«

»Mmmh, das wird schwierig, ich kannte die Frau ja nicht, sie kam zum ersten Mal in den Laden. Möchten Sie auch einen Kaffee?«

»Gerne, doch eigentlich habe ich gar keine Zeit, ich muss nach Hause.«

»Aber es ist doch gerade mal 9.30 Uhr, kommt Ihr Mann zum Mittagessen?«

»Nein, das nicht, aber er ruft immer an, um zu kontrollieren, wo ich bin.«

»Stündlich?«

»Nein, nein, nur am Mittag.«

»Ja, dann haben sie ja noch Zeit. Also kommen Sie.« Brigitte ging nach hinten, und Anna folgte ihr zögernd.

Den Umschlag legte sie erst einmal zur Seite. Nachdem sie den Kaffee gekocht und noch ein paar Kekse dazugelegt hatte, griff sie wieder nach dem Umschlag. »Also, dann schauen wir mal, was das ist.«

»Es sind Reisegutscheine.« Anna rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum und leerte ihre Kaffeetasse in einem Zug.

»Eine Reise im Royal Scotsman, wissen Sie, wie toll das ist?«

Anna stand auf und wandte sich zum Gehen. »Ich muss nun wirklich wieder nach Hause, ich wollte Ihnen nur den Umschlag zurückbringen. Vielen Dank für den Kaffee.« Sie hatte die Türklinke bereits in der Hand, als Brigitte sagte:

»Da steht nirgends ein Name, wieso gehen nicht Sie hin?«

»Ich? Was soll ich denn in England?«

»Schottland. Wieso nicht? Waren Sie schon mal dort?«

»Nein, aber mein Mann wäre niemals einverstanden. Auf Wiedersehen, ich muss los, sonst fährt das Postauto ohne mich.«

Anna sah nicht, dass Brigitte schon den Telefonhörer in der Hand hielt.

Wieder zu Hause googelte Anna den Royal Scotsman, und einen kurzen Moment lang bereute sie, dass sie die Tickets zurückgegeben hatte. Der Zug erinnerte sie an den Orient- Express in der Agatha Christie-Verfilmung. Die Kabinen waren mit glänzendem Holz ausgestattet und anstatt in normalen Sitzen genoss man die Fahrt in einem Salonwagen mit bequemen Sesseln und kleinen Sofas. Ich würde doch nicht dorthin passen, dachte sie. Dann klickte sie die Seite weg und löschte den Verlauf.

3

Immer wieder sah Anna in den nächsten Tagen die Bilder des Royal Scotsman vor sich, und sie bereute es immer mehr, die Tickets zurückgebracht zu haben. Sie versuchte, die Bilder zu verdrängen.

Trotzdem ging sie ein paar Tage später nochmals zu Brigitte in den Laden. Sie wollte wissen, wie die Geschichte weitergegangen war, ob Brigitte die Besitzerin hatte ausfindig machen können und ob diese fuhr.

»Hallo, schön Sie zu sehen, wie geht es?« Brigitte kam um den Ladentisch herum und schüttelte Anna die Hand.

»Danke, mir geht es gut, ich wollte einfach ...« Sie brach ab.

»Ja?«

»Ich wollte ... also nachdem ich Ihnen die Tickets zurückgebracht habe, habe ich gegoogelt, der Royal Scotsman ist wirklich toll ... Hat sich die Frau schon gemeldet?«

Brigitte schmunzelte: »Nein, das nicht, aber ... Warten Sie einen Moment.« Sie verschwand nach hinten. Kurz darauf kam sie wieder nach vorne und hielt eine Flasche Prosecco in den Händen. Anna sah sie fragend an.

»Schließlich müssen wir doch endlich auf unser Wiedersehen anstoßen.«

»Wiedersehen, aber wieso?«

»Anna, du erinnerst dich offensichtlich nicht, aber wir sind in dasselbe Schulhaus gegangen, und ich habe dich damals so bewundert, wie du eines Tages mit knallorangen Haaren aufgetaucht bist. Ich wollte auch solche Haare, und als ich mich endlich durchgerungen hatte, waren deine wieder schwarz oder blond? Das weiß ich nicht mehr, auf jeden Fall wieder anders.«

»Oh je, ja das war meine kurze Rebellenphase, meine Haare haben ganz schön gelitten, und mein ganzes Taschengeld ging für die Farben drauf. Nach ungefähr einem halben Jahr hatte ich kein Geld mehr und Strohhaare. Seither habe ich nie mehr die Haarfarbe geändert, nur verbessert.« Anna hob ihre Haare und deutete auf den grauen Ansatz. »Ich kann mich wirklich nicht mehr an dich erinnern. Wieso hast du mich eigentlich erkannt? An den Haaren konnte es ja nicht liegen.«

»Nein, ›Anna, die Nase‹.« Brigitte lachte. »Du hast an der Tasche gerochen, immer wieder und gedacht, ich sehe es nicht.«

»Das wird ja immer peinlicher. ›Die Nase‹ – hat man mich wirklich so genannt?«

»Ja, aber jeder hat so seine Macken, da musst du dich nicht schämen, und ein guter Geruchssinn ist doch hilfreich. Hier, riech.« Sie hielt Anna das Glas hin und stellte ihr eigenes auf die Theke.

»Und es gibt nämlich noch etwas, worauf wir anstoßen müssen.« Brigitte griff unter die Theke und zog den roten Umschlag hervor. Anna sah sie erneut fragend an.

»Der ist für dich, es ist alles geregelt, die Tickets lauten nun auf deinen Namen. Schottland wird dir gefallen.«

»Brigitte, du kannst doch nicht einfach die Tickets auf mich ausstellen? Und du wusstest ja gar nicht, ob ich wiederkomme und wie ich jetzt heiße.«

»Ich habe geahnt, dass du nochmals kommst, und dein Name war nicht schwer herauszufinden, ist ja immer noch ein Dorf unsere Stadt. Außerdem gehören die Tickets mir.«
»Dir? Aber ich dachte, die Frau, die Tasche …?« Anna musste sich setzen, es drehte sich alles um sie, und das lag nicht an dem Schluck Prosecco.

Brigitte setzte sich ihr gegenüber, und dann erzählte sie ihr die wahre Geschichte der Tickets: »Meine Schwägerin hat die Reise bei einem Wettbewerb gewonnen, aber obwohl es einer der Hauptpreise gewesen war, war sie nicht zufrieden damit. Sie hat mir den Umschlag mit den Worten ›Die kannst du haben, ich wollte die Kreuzfahrt‹ hingeknallt.«

»Ja, aber wieso wolltest du sie dann nicht?«

»Ach, das ist eine andere Geschichte, früher hätte ich keine Sekunde gezögert, aber jetzt konnte ich einfach noch nicht nach Großbritannien zurückkehren, wo ich so lange mit meinem Mann glücklich gewesen war.«

»Du hast in Großbritannien gelebt? Wie lange?«

»Über zwanzig Jahre. Ich bin erst nach dem Tod von Andreas zurückgekommen, und weil ich mich beschäftigen musste, habe ich diesen Laden eröffnet. Meine Schwägerin, die Frau von meinem Bruder, war die Einzige, die uns nie besucht hatte, sie konnte nie verstehen, was uns dort hielt, deshalb hat sie wohl auch mir die Tickets geschenkt.«

»Aber das war doch nett, sie wollte dir eine Freude machen.«

»Ja, vermutlich, doch ich hätte auch lieber die Kreuzfahrt gehabt.« Brigitte lachte. »Na ja, ich konnte sie aber auch nicht wegwerfen. Und deshalb habe ich sie aufbewahrt.«

»Das verstehe ich, aber wieso hast du sie mir in die Tasche gesteckt, oder hast du sie dort aufbewahrt und mir aus Versehen mitgegeben?«

»Nein, die habe ich dir ganz bewusst da reingetan. Ich wollte sie jemandem schenken, den ich kenne, und ich glaube, du hast eine Luftveränderung nötig. Außerdem drängte die Zeit, das Reisebüro wollte endlich wissen, wer fährt.«

»Aber du hast mich ja über zwanzig Jahre nicht gesehen und auch nie richtig gekannt, wie willst du wissen, ob ich eine Luftveränderung brauche? Oder ist das etwa so offensichtlich?«

»Ich lag also doch richtig, oder?«

Anna gab einen Moment lang keine Antwort, und dann nickte sie.

»Ja, es stimmt. Ich bin schon lange nicht mehr zufrieden mit meinem Leben.«

»Siehst du, das ahnte ich. Hier nimm, Schottland wird dir gefallen.«

»Ich kann doch nicht einfach ...«

»Wieso nicht?« In dem Moment klingelte die Ladentür, und eine andere Kundin kam herein. »Nimm sie mit und schreib mir eine Postkarte.« Brigitte umarmte Anna kurz und wandte sich der Kundin zu.

Anna steckte die Tickets in ihre Tasche und verließ den Laden.

Wieder zu Hause legte sie den Umschlag zu der roten Handtasche, und dort würde er auch bleiben. Sie konnte nicht verreisen, die Reise war nur für eine Person, und Ulrich würde sie niemals allein gehen lassen. Sie sah förmlich sein Grinsen und hörte seinen Kommentar. »Du allein im Ausland, dazu bist du doch nicht fähig. Vergiss es.« Und genau das würde sie nun versuchen.

+++ +++ +++

Textprobe: Monica Heinz

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