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Cover "Tretmühlentreue" von Reinhold Franz-Reisert     Leseprobe "TRETmühlentreue"

von Reinhold Franz-Reisert.

Taschenbuch, ca. 240 Seiten, ISBN: 978-3-96050-244-9  

Inhalt

Erster Teil
   Das Dorf
   Samstag, 7. Dezember 1918 – Anton
   August 1919 – Berta
   Juni 1920 – Karls Geburt
   Oktober 1920 – Berta im Schusterhaus
   Mai 1921 – Karl
   Februar 1922 – Karl, Trude und Marie
   März 1925 – Bertas Beerdigung
   Oktober 1928 – Kunigunde und Benedikt
   November 1929 – Das Versteck
   November 1930 – Der Kuhstall
   1930 – Der Nussbaum
   1931 – Otto der Busfahrer
   Oktober 1933 – Alfons
   1935 – Hitlerjugend
   Juni 1939 – Sehnsucht nach dem Militär
   Februar 1940 – Trude
   Juli 1946 – Die Schusterwerkstatt
   Oktober 1947 – Karl und Hedwig
   Juni 1950 – Kunigunde
   Der Täter
Zweiter Teil
   Pfalzberg, März 1942 – Tamara und Mischa
   Februar 1945 – Rita
   August 1945 – Jakob
   Der Hof von Elfriede und Arthur
   September 1945 – Jakob und Rita
   Elfriede – März 1946
   März 1947 – Unter einem Dach
   Hannes und Bertram
   1951 – Das Dreirad
   März 1952 – Manöver
   Duftnoten und Dialektvariationen
   Februar 1955 – Aufklärung
   1957 – Das Baumhaus
   Sommer 1957 – Der Schuster
   1960 – Messdiener
   1960 – Tauben, Hunde, Katzen, Hasen
   1960 – Der Klobenvitus
   Missbrauch
   1960 – Buben im Bett
   13. November 1960 – Volkstrauertag: Die Feier am Kriegerdenkmal
   Winter 1960 – Schlachttag
   Hannes
   Regine
   1964 – Rotlicht 1
   1965 – Rotlicht 2
   1971 – Der Busfahrer
   Oktober 1971 – Isabell
   1972 – Isabell und Rita
   Der Retter
   1975 – Im Gleis
Orte und Personen
Über den Autor

Das Dorf

Im Herbst, zu Allerheiligen hin, zogen nasskalte Wetter über das Land. Nebelschwaden sickerten ins Geäst der Kiefern und der Buchen und hüllten sie ein. Schneeregen fiel auf die Dörfer, kehrte die Gassen leer und die Menschen nahmen ihr Gezeter mit in die Häuser hinein. Alle Kreaturen hockten in der Küche, denn nur da war Feuer im Herd.

Die Menschen waren getrieben von der Schufterei auf dem Hof, im Wald und auf dem Feld. Sie unterwarfen sich ihrem Gottvater im Himmel und seinem Diktat: »Bis dass der Tod euch scheidet«, oder: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. Gesetze, an denen alle schwer zu tragen hatten. Absolute Gesetze, die einzuhalten waren, um den Gläubigen das Joch von ewiger Schuld und Sühne draufzupacken.

Niemand liebte sich selbst und notgedrungen eingepfercht in der Strenge des Dorfes, der Familie, hatte nur der Tod das Recht zu trennen. Wohin mit dem Zorn, der Wut und der Schuld, die sich im Laufe des Lebens angehäuft und aufgetürmt hatten. Diese Emotionen hatten dann, in Zunder gebettet, schnell nach dem Feuer gegriffen.

Jeder kannte die Wege des anderen. Nach draußen, zum Stall, in die Scheune. Jene Zeiten, in denen man abwartete, unter der Stiege kurz innehielt, bis die Gefahr einer Begegnung vorüber gewesen war. Doch die Arbeit, die erledigt werden musste, und die Mahlzeiten, zwangen sie zueinander. Keinem Atemzug gelang es, die Brust zu weiten. Die Menschen stützten und unterstützen sich wie marode Pfeiler.

Jeder für sich. Vereinsamt. Verstockt.

So brachten sie ein ganzes Leben durch im Dorf, bis die Kräfte nachließen oder die Menschen aneinander zerbrachen.

Einmal unter der Woche trafen sich Frauen zum Stricken. Sie vertrauten sich die Grobheiten ihrer Männer an und beweinten ihre Not, die sie nicht ändern konnten.

Festgezurrt in den Fesseln der Tradition.

Die Männer fanden sich zu zweit, zu dritt in den kuhwarmen Ställen ein, in denen sie auf Strohballen saßen.

Hände, mit Schwielen und nässenden Wunden überzogen, die noch vor Kurzem den Gabelstiel im Griff, den Mist geordnet und den Kühen eingestreut hatten, umfassten Apfelweingläser. Fingerkuppen tasteten sich in die gerippte, goldene Rautenstruktur des Glases. Auf dem Mauervorsprung stand ein gefüllter Bembel. Den Apfelwein zogen die Bauern gierig in den Schlund und tauchten ihr Hirn damit in einen wohligen Nebel. Die Männer klagten über den zu nassen Herbst, zogen über die Leute im Dorf her und ereiferten sich über das Fußballspiel gegen das Nachbardorf am Sonntag. Brachten sich in Position, denn sie würden sich wieder mit den Bucheckern prügeln.

Vom Wolfsbuckel aus gesehen sah das Dorf aus wie auf einer verblichenen Ansichtskarte. Wenn am Abend vom Westen her die Sonne ihre sterbende Glut auf die Dächer warf und sie mit einem zarten Rot überzog. Sandsteinmauern traten aus dem Schatten hervor und standen ockerfarben im Licht. Vermengt, wie hin gewürfelte Klötze, lagen die Gebäude im Schimmer des Abends. Löste der Mond die Sonne ab und erkundete mit seinem Licht die Gassen und Pfade, schien das Dorf wie ausgestorben.

Die Dämmerung rundete Ecken und Kanten und ließ Zwischenräume verschwinden. Bodennebel kroch über die Wiesen, strömte feuchtkalt ins Dorf, bis sich die Nacht darüber senkte und sich alles einverleibte.

Nur das Kläffen eines Hundes, das Brüllen einer Kuh störte diese Kirchhofsruhe. Später in die Nacht hinein kreischten die Katzen, riefen die Eulen und Fledermäuse flatterten wie kleine Gespenster durch die Finsternis. Lautlos angelten sie sich an den wiederkehrenden Schallwellen entlang und jagten Falter, Motten und Mücken.

Was brüteten sie aus, die Menschen in ihren Betten, wenn sich ihre Leiber in den Senken der Strohsäcke wälzten, sich aufbäumten, weil in den Seelen die Gedanken rumorten? Keine Ruhe geben konnten. Eine Nachschau des Alltags forderten. Oder Bilder des Krieges, die ihren Platz in den Träumen behaupteten, die mit ihren Fratzen bleiben wollten, bis die Kreatur schweißgebadet in der Nacht hochschreckte.

Schuttplätze waren im tiefsten Inneren eines Jeden angelegt, mit Müll, der gärte und keine Ruhe gab. Es brauchte alle Kraft der Erschöpften, am Morgen diese Teufel in die Schluchten des Vergessens zu befördern. Und so quälte sich der Bauer morgens aus hart gelegenen Kuhlen aus seinem Bett, wie eine Mumie vielleicht, die ausgegraben die Last vom Vergangenen in sich tragen musste. Eingestaubt und trocken zwar, ein Wesen aber, wie mit Leder überzogen, um der eigenen Zerbrechlichkeit einen Schutz zu bieten.

Wehe, wer so einem Beladenen begegnete!

Samstag, 7. Dezember 1918 – Anton

Als der Kaiser vor vier Jahren, im Sommer 1914, zu den Fahnen gerufen hatte, war Anton voller Tatendrang an die Front gezogen, um die verhassten Franzosen in die Knie zu zwingen. Nach ein paar Monaten würden sie als Sieger heimkehren und unter einer jubelnden Menge in die Heimat einziehen. So dachten alle. Doch es war anders gekommen.

Seine Frau Olga hatte von da an den Hof allein bewirtschaften müssen. Nur ein paar Fronturlaube wurden Anton gewährt, in denen er zur Pflanz- und Erntezeit nach Hause durfte. Ihre Tochter Trude war sechs, die Zwillingssöhne Max und Seppl waren fünf Jahre alt gewesen, als Anton einrückte. Die Schusterwerkstatt lag verwaist und wartete auf die Heimkehr des Meisters. Nur Olga ging an Schuhregalen, Nähmaschinen und Spannvorrichtungen vorbei, um in ihre Schlafkammer zu kommen. Der Geruch von Leder und Schweiß hing in der Werkstatt und hin und wieder schaute Olga auf den Hocker, der allein auf dem Podest stand und auf Anton wartete.

Der Frankreichfeldzug war schon im November 1914 zum Stocken gekommen. Die Deutschen hatten Belgien überrannt und waren in die Champagne eingedrungen, um weiter im Süden die Vogesen zu überwinden, bis sie von der französischen Armee gestellt wurden.

Die Front verlief von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze und sowohl die Franzosen als auch die Deutschen gruben sich hundert Meter voneinander entfernt in die Erde ein.

Gräben, die oft nicht mit Bohlen und Rundhölzern ausgeschlagen waren. Weder waren sie stabilisiert mit Pfählen noch hatten sie den Luxus von Laufbrettern gehabt, obwohl die Todgeweihten bis zu den Knien im Morast gestanden hatten.

Die Schützengräben zogen wie Kanäle über Wiesen und Äcker. Kilometerweit durchschnitten sie das Land. Aufgerissen lag die Flur. Ein endloses Grab mit der Geduld des Todes, das mit Leichen von Menschen aus Frankreich und Deutschland aufgefüllt werden wollte. Männer, die sich noch nie gesehen hatten. Die sich noch nie ein böses Wort gegeben hatten. Ein Bruch, eine Kluft spaltete die Menschen und ließ sie unversöhnlich aufeinanderprallen. Der Schützengraben war zum Alltag geworden, in dem sich Anton mit seinen Kameraden eingerichtet hatte. In dem geschlafen, gegessen und Witze gerissen wurden. Über die sie lachten. Laut und ausgelassen. Tränen lachten, bis der Schrecken den Rücken hinaufkroch und sie sich die Kehle aus dem Hals schrien. Aufgerissene Leiber. Zerfetzte Körper. Nasse, vom Giftgas in den Dreck getriebene Gesichter.

Der Tod holte sich, wen er wollte. Oder er ließ sie liegen. Verächtlich. In ihrem Blut. Wie weggeworfen. Um sie später zu holen oder sie langsam krepieren zu lassen. Anton hatte es am frühen Morgen des 25. März 1918 erwischt. Bei der »Operation Michael«, in Gedanken an den Schutzpatron, waren sie vorgerückt. Eine Granate zerfetzte zwei seiner Kameraden. Anton riss es den Oberschenkel auf. Bis auf den Knochen. Nach sechs Monaten im Lazarett meldete er sich wieder bei seiner Einheit zurück. Dass sein linkes Bein nicht mehr so gut hinterherkam, daran würde er sich gewöhnen.

Wetterumschläge spürte er im Voraus, da waren sie noch Tage entfernt und am Grad der Schmerzen wusste er, ob es Schnee oder Regen gab oder ob die Sonne scheinen und die Schwalben hoch fliegen würden. Wenn Nebelschwaden auf die Menschen drückten und diesiges Licht ihnen die Laune verdarb, rumorte das Bein und Anton schrie vor Schmerzen.

Endlich im November 1918 gestand die Heeresleitung unter Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg die Niederlage ein und ließ Friedensgespräche zu.

Antons Einheit löste sich nach der Kapitulation auf und er machte sich auf den Heimweg. In Pfalzberg stieg er aus dem Zug.

Anton war gut drei Stunden gelaufen. Ausgemergelt, ausgehungert, quälte er sich die Stadt hinaus. Müde. Das Bein schmerzte. Die Füße wund gerieben im groben Leder der Schuhe, die durch die Lehmbatzen schwerer wurden, die wie verleimt an den Sohlen hafteten. Reste der Strümpfe blutdurchtränkt. Die Hose hatte er mit einem Strick um die Hüfte gebunden. Der über die Schultern geworfene Mantel trug sich schwer.

Mit einem Stock als Krücke, den Leib gekrümmt, schaffte er sich voran auf Wegen, die vom Regen aufgeweicht, mit Rinnen durchfurcht waren; Schlaglöcher und Steine ließen ihn stolpern. Anton rang nach Luft und zwang sich immer weiter, über Pfade durch Wiesen und Äcker, durch den Wald, die Hügel des Spessarts hinauf.

Anton kannte die Apfel- und Birnenbäume, die aufgereiht die Wiesen besiedelten. Ihre Blätter verdorrt und rostbraun lagen sie jetzt im Dezember wie ein Teppich unter der Baumkrone. Und er sah schon von Weitem die Birken aufragen, die eine Weggabelung markierten, in deren Schutz ein Bildstock auf ihn wartete. Auf einem Sockel aus Sandstein stand eine Säule, auf der ein Nischenhäuschen thronte. Darinnen Maria mit dem Kinde.

Anton neigte sein Haupt und las den Spruch wie jedes Mal, wenn er hier auf dem Weg nach Pfalzberg eine Rast einlegte.

»Schmerzhafte Mutter.

Königin des Friedens.

Bitte für uns.«

Anton betete ein Vaterunser und ein Gegrüßet seist du Maria. Er war voll Dankbarkeit, dass ihn die Muttergottes aus dem Kriege hatte heimkehren lassen.

Anton hatte einen Fuß vor den anderen gesetzt. Kurze, schwere Schritte. Stundenlang. Ein Steigen, wie auf den Stufen einer endlosen Treppe. Die Hänge des Spessarts hinauf. Mit seinem steifen Bein, das nicht hinterherkam. Eine Plackerei.

Ausgepumpt lehnte er sich an einen Apfelbaum und schaute hinab auf sein Dorf Heurich. Daneben der Mönchsberg. Ihm gegenüber der Wolfsbuckel. Wie ein Wall zog sich der Wald zum Osten hin um das halbe Dorf und verband beide Berge. Dicht standen Buchen, Eichen, Fichten und Kiefern. An den Waldrändern zogen Wiesen und Äcker ins freie Feld. Feucht glänzend, wie aneinander gereihte Würste, lag Scholle an Scholle den ganzen Winter über im Frost.

Waren seine Äcker im Herbst gepflügt worden?, fragte sich Anton. Hatte Olga diese Schinderei, Furche für Furche dem Pflug hinterher, durchgestanden? Im Frühjahr würde er die Kühe vor die Egge spannen und den Acker einebnen und einsäen.

Anton erschrak, denn zu solch schwerer Arbeit war er im Moment gar nicht fähig. Jeder einzelne Knochen schmerzte, die Gelenke brannten und sein linkes Bein knickte ein. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten.

Was hatte er sich nach diesem Tal gesehnt, nach seinem Dorf, in dem er geboren wurde, in die Schule ging und wie sein Vater, Bauer und Schuster war. Seine Söhne würden dieses Erbe weitertragen.

Anton schaute auf den Wolfsbuckel. Er stand hinter dem Dorf wie eine Wand. Aus dem Wald holten die Bauern das Holz zum Bauen ihrer Häuser, Brennholz und das Herbstlaub der Buchen und Eichen. Das wurde den Kühen eingestreut, weil man mit dem Stroh nicht über den Winter kam. Der Waldboden war dann wie mit einem Reisigbesen sauber gekehrt.

Anton fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. Heurich schien wie ausgestorben. Im Frühjahr zur Aussaat war er zuletzt daheim gewesen. Ihm kam das wie eine Ewigkeit vor.

Wie Trommelfeuer schlugen die Geschehnisse der letzten Jahre auf ihn ein. Schützengräben, Granaten, zerfetzte Menschenleiber. Sie traktierten seinen Kopf und raubten ihm jedes Zeitgefühl.

Anton schaute den Hohlweg entlang, der sich zum Mönchsberg hoch schlängelte. Holzfuhrwerke hatten Gräben in die Erde gewalzt. Pfützen spiegelten Gestrüpp und Gestein und lagen wie zerrissene Bilder in den Kuhlen. Eine Grasnarbe hielt die Furchen auf Abstand. Wie ein Schienenstrang zog sich der Weg durch den Wald hinauf zur Kapelle.

Den Gedanken, dem Heiligen Michael einen Besuch abzustatten, verwarf er gleich wieder.

 Als die Pest sich Städte und Dörfer vorgenommen hatte, in den Häusern und Gassen gewütet und der Tod wie ein Raubtier jeden Winkel, jedes Versteck ausfindig gemacht hatte, wussten die Menschen, dass das Ende der Welt gekommen war. Jesus Christ würde vom Himmel steigen, um die Lebendigen und die Toten zu richten. In Heurich hatte eine Handvoll Geschöpfe das Grauen überstanden. Sie bauten als Dank eine Kapelle auf dem Berg.

Irgendwann hatte eine Kreatur in Mönchskutte auf der Stufe vorm Eingang gekniet. Sein Körper bestand nur noch aus Haut und Knochen. Ein Kälberstrick schnürte seinen Leib straff und ließ ein Gerippe unter dem Wollstoff vermuten. Auf der Brust hing an einem Lederband ein Kreuz aus gebleichtem Holz, das er ergriff und mitsamt seinem Kinn gegen den Himmel hob. Sein Blick war in die Weite des Firmaments gerichtet. Die Augäpfel, in geändertem Weiß, starrten aus den Höhlen. Wie Würmer schlängelten sich die Venen auf den Schläfen.

»Erzengel Michael, Heerführer der Streitmacht des Herrn, rammt dem Satan die Lanze in den Rachen und steht euch bei, in eurer letzten Stunde. Sankt Michael bewahrt euch vor der ewigen Verdammnis und geleitet euch Sünder hinüber ins Himmelreich«, rief er den Dorfbewohnern zu.

»Ich werde für euch beten. Ich werde für euch fasten.«.

Er neigte sein Haupt und faltete die Hände.

Die Dorfbewohner hatten dem Eremiten zu essen gegeben und ihm eine Hütte an die Kapelle gebaut.

Noch heute trotten die Heuricher am 29. September, dem Jahrestag des Erzengels Michael, mit Pauken und Trompeten den Berg hinauf. Lieder zu Ehren Sankt Michaels und das Gebrummel der Gebete ergießt sich dann bis hinab ins Tal.

Anton blickte auf die Häuser, die Höfe, die sich zu einem Haufen ins Tal duckten und sich auf einem Hohlweg bis zur Kirche hochzogen. Dort standen sie um das Gotteshaus, als ob sie es beschützen wollten.

Anton schaute auf sein Dorf, es war ihm fremd geworden.

Er versuchte, einzelne Häuser zu erkennen. Schaute, wie sie angeordnet waren, wie Stall, Scheune und Wohnhaus zu- einander standen. Er sah Kastanienbäume an der Kirche, Linden an den Wirtschaften und fand den Nussbaum, der aus seinem Hof aufragte.

Jetzt im Winter standen die Bäume nackt. Das pure Geäst gab die Sicht auf Gebäude und Mauern frei, die sich noch vor Kurzem unter einem Blätterdach versteckt hatten. Nun traten sie hervor, als ob sie ihre Scheu verloren hätten.

Es sah nach Regen aus und vielleicht würde sich das »Sauwetter« bis in den April hinein ziehen, dachte Anton.

Wer mochte dort unten in den Stuben hocken? Am Herd stehen?, fragte er sich. Wer war gestorben, seit er hier im Frühjahr seinen letzten Fronturlaub verbracht hatte?

Bei der Großoffensive im Frühjahr, der verlorenen »Kaiserschlacht«, hatte es große Verluste an der Westfront gegeben. Gab es Männer, die nicht mehr heimgekehrt waren?

Standen einige Höfe leer?

Anton beschlich eine Scheu, die ihn innehalten ließ.

Er hatte auf der Höhe gewartet, bis es dunkel wurde. Bis lose Lichtpunkte in der Nacht hingen, die die Funzeln in den Küchen aus den Fenstern warfen.

Als um sechs Uhr die große Glocke im Kirchturm den Abend einläutete, befiel Anton ein Gefühl der Andacht und Stille. Die Bauern waren jetzt aus den Ställen und Scheunen in die Häuser gezogen und setzten sich wohl gerade um Tische, auf denen Kartoffeln dampften, die sie in Salz tupften, und mit Keesmatte[1] bestrichen.

Zinkwannen standen in den Küchen. Zuerst wurden die Kinder in das dampfende Bad gehoben. Sie wehrten sich mit Händen und Füßen gegen das wöchentliche Ritual. Dann die Alten. Sie hockten sich ins gleiche Wasser, die Knie an der Kinnlade. Einer nach dem anderen. Mit Kernseife, die wie ein Knochen in den Händen lag, schrubbten und rubbelten sie die Haut, bis oben auf der geriffelten Wasserfläche Fettaugen schaukelten.

Gewaschen und mit dem Balsam des zur Brühe gewordenen Bades benetzt, waren sie für den nächsten Tag präpariert, um den Tag des Herrn zu feiern. Den Tag der Ruhe. Den Sonntag. Den 2. Advent.

Anton hatte sich auf den Weg ins Dorf gemacht und war vor seinem Gehöft stehen geblieben.

Am linken Rand begrenzte der Nussbaum den Hof, in den der Frost gefahren war. Ohne Blätter fast beschämt stand er da. Im Anschluss die Scheune, der Stall und der Schuppen, in dem der Pflug, die Egge und der Leiterwagen auf ihren Einsatz warteten.

Im Winkel bis zur Gasse hin stand das Haus. Der Giebel, leicht überstehend. Er sah sich die Anordnung der Fenster an. Anton schaute wie in ein Gesicht, das ihm vertraut war und schnaufte auf. Was hatte er sich nach diesem Moment gesehnt. Endlich stand er vor seinem Haus. Er blickte zum Werkstattfenster hoch und sah sich dort hinter der Scheibe auf dem Podest sitzen, zu sehen war auch das Regal an der Wand mit den Leisten, die penibel aufgereiht zu ihm herunterschauten.

Anton tat sich schwer mit den Sandsteinstufen, die ausgetreten und ausgewaschen zur Eingangstür führten. Er angelte sich am Holzlauf entlang, der von schwieligen, schweißigen Händen blank gescheuert war, die paar Stufen hoch. Dann trat er ins Haus. Den Geruch von Leder, Kleister und geölten Dielen zog er in sich hinein und öffnete die Küchentür.

Olga war hochgefahren. Trude, Max und Seppl erschraken. Ihren Vater kannten sie nicht mehr, ein alter Mann stand da im Türrahmen, dem die Schrecken des Krieges ins Gesicht und in den Leib gefahren waren. Unverhohlen hungrig starrte er auf seine Frau, dann auf die Kinder. Ohne ein Wort durchschritt er den Raum. Anton zog sein linkes Bein hinter sich her, ging an den Schrank, holte sich einen Teller, nahm eine Gabel aus dem Kasten, setzte sich an den Tisch und griff nach den Kartoffeln.

August 1919 – Berta

Berta hatte ihre Haare gewaschen und fuhr sich mit den Händen über den Kopf, spreizte die Finger und warf den Schopf zum Trocknen der Sonne entgegen. Sie versuchte, die Formen und Wölbungen ihres Körpers mit einem Kleid zu verbergen, das langärmelig war und bis zu den Waden reichte. Darüber trug sie eine Schürze, die sie im Rücken verknotet hatte. Den Latz hatte sie über die Brust gezogen und das Band hinten im Nacken zusammengebunden. Die Schürze war mit roten und blauen Würfeln bedruckt und hatte Taschen für die Hände, wenn Berta nicht wusste, wohin mit ihnen.

Berta ging im Garten zwischen den Beeten hindurch und betrachtete die Karotten, den Kohl und die Tomaten. Alle in Reih und Glied warteten sie darauf, geharkt und gegossen zu werden. Sie redete mit dem Gemüse, strich über Salatblätter, roch an den Fingerkuppen und sog den Duft in sich hinein.

Berta flocht sich Zöpfe, kringelte diese zu einem Dutt und befestigte ihn mit Nadeln aus Horn unverrückbar auf ihrem Kopf. Aus einiger Entfernung könnte man irrigerweise denken, ein Amselpaar hätte da ein Nest für seine Jungen gebaut. Was für Schritte, welcher Schwung im Tanze gewagt, wie hoch das Kleid auch flog: Dieses Bauwerk würde nicht wanken, nicht weichen.

Es war Kirchweih in Heurich. Am Sonntagnachmittag hatte ihr der Bauer freigegeben. Sie würde nach der Andacht, mit ihrer Freundin, zum Festplatz gehen. Eine Schaukel schwang ihre wannenähnlichen, bunten Kähne durch die Luft. Besetzt von, in den Knien und Hüften wippenden Burschen und kreischenden Mädels, die sich an den Eisenstangen festhielten. Eine Schießbude war aufgebaut, ein Wurststand und ein Bierausschank. Dazwischen Tische und Bänke, auf denen Burschen sich flegelten, die ihre Bierkrüge aneinander knallten, sich auf die Schenkel klatschten und ihre eigenen Sprüche und Auswürfe belachten.

Für das Fahrende Volk war es nicht einfach, auf die Dörfer zu gehen. Es schlug ihnen eine unverhohlene Feindseligkeit entgegen.

Auswärtige, Juden, Flüchtlinge, selbst Evangelische bekamen die kleinbäuerliche, verachtende Kälte wie einen Fehdehandschuh ins Gesicht geworfen. Selbst unter den katholischen Einheimischen wurde darauf geachtet, dass der Spott die Schwächsten traf.

Berta hörte einen Ton, der Lehrer Wagenhöfers Geige glich, auf der er mit einem zittrigen Bogenstrich die Saite ermunterte, die Violine nicht wie eine Säge klingen zu lassen. So versuchte er seinem Chor einen Halt, eine Richtung zu weisen. Die Mädchen und Jungen durch Tonleitern und Intervalle zu taktieren. Ihnen manches Lied schmackhaft zu machen.

Berta folgte dem kratzenden, dudelsackähnlichen Ton, der sich zwischen den Ständen und Tischen hindurch auf dem Festplatz breit machte.

Einen Messias sah sie da sitzen, in einem bunten Hemd aus Leinenfetzen zusammen genäht. Gewandartig war der Stoff über ihn geworfen und ließ einen feingliedrigen Körper darunter vermuten.

Seine Mähne in Strähnen bot einen massiven Rahmen für Stirn und Wangenknochen. Wulstige Lippen rutschten beim Singen über die Schneidezähne, als ob er grinsen würde. Ein Flaum, na ja, eher ein Milchbart, gab dem Gesicht etwas Zartes und nahm seinem Riechkolben die Wucht. Und schaute er auf die Leute und die Kinder, neigte sich leicht sein Haupt und das Haar strich über seine Brust.

Auf seinem Schoß lag ein Schiff aus Holz, aus dem zur linken ein Lockenkopf als Galionsfigur ragte. Er sang Moritaten, er beschwor die Liebe und traf Berta mitten ins Herz.

Mit der Kurbel in der hohlen Hand drehte er das Rad, drückte die Tasten der Leier und sang vom kleinen wilden Vögelein, das den goldenen Käfig des Prinzen verschmähte und sich dafür lieber in die Lüfte schwang, zur Sonne hin, die es wärmte. Der krause Kopf gefiel Berta. Sie ließ sich einfangen vom Schwarz seiner Augen, die strahlten, die sein freches Lachen unterstrichen und Berta in seinen Bann zogen.

Zur Nacht hin waren die Frauen und Männer nach Hause gegangen, um das Vieh zu füttern. Zu melken. Nur ein paar Sorgengeplagte oder Unbekümmerte hielten sich noch an den Henkeln ihrer Bierkrüge.

Die Amsel sang ihr Schlaflied, da fasste der Musikus Bertas Hand. Sie betasteten sich, benebelt vom schweißgetränkten Liebstöckelduft, streichelten sich wie zwei Hungernde, Dürstende, die nach Nähe und Vereinigung fieberten. Nach nackter Haut. Nach Verschmelzung. Die Münder vereint. Ein Fluss im Fall, der strömte und schäumte. Rauschte ins Tal, ignorierte das Hell und Dunkel. Vergaß die Zeit.

Das Gras bettete sie. Die Buchenhecke beschützte sie.

Als Berta am nächsten Mittag zum Festplatz eilte, war der Bänkelsänger fort, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Wenige Wochen später wusste Berta: Sie war schwanger. Der Bauer ertrug die Schande nicht und jagte sie vom Hof.

Sie bezog eine Kammer im Heuricher Armenhaus und gebar ihre Tochter Marie.

Berta schaute ihr ins Gesicht und sah den Musikus leibhaftig vor sich.

 

[1] Quark

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Textprobe: Reinhold Franz-Reisert

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