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Cover Kein Tag ohne Luzie von Karin Büchel    Leseprobe "Kein Tag ohne Luzie"

von Karin Büchel

Taschenbuch, ca. 216 Seiten, ISBN: 978-3-96050-247-0

Inhalt

Fantasie und Realität
Gefühle
So fing es an
Das Jahr 1978
Bertram
Die Wochen danach
Die Jahre vergingen wie im Flug
Kinder
Luzie wird achtzehn
Neue Wege
Zwei Jahre später
Die Jahre vergingen
Der Tag
Die Tage danach
Das Leben muss weitergehen
Ideenknäuel
Die Entstehung
Das erste Treffen
November 2008
Stark
ANUAS e.V.
Heute
Nachtrag von Marion Waade
   Bundesweite ANUAS-Ansprechpartner
   Struktur des ANUAS e.V. – bundesweit
   Kriminalpräventives ANUAS-Projekt: ANUAS TALK
   Die UN-Behindertenrechtskonvention
   Bundesweite ANUAS-Themenwochen
   ANUAS-Schirmherren und Botschafter
   Gesundheits-integrativpräventive Projekte
   Kriminalpräventive Projekte
   Literaturquellen
Nachwort und Danksagung
Die Autorin

Gefühle

Luzie ist bei mir. Jeden Tag. Jeden verdammten Tag. Ich sehe sie im Laufstall mit dem Stoffhasen spielen, im Sandkasten nach Schätzen buddeln, auf der Schaukel mit den Füßen voraus gen Himmel fliegen, mit der selbst gebastelten Schultüte, auf der ein Marienkäfer abgebildet ist. Ich sehe ihre leuchtenden Augen und die glühenden Wangen. Ich sehe die Zöpfe, die an den Enden mit bunten Gummis geschmückt sind. Höre ihr fröhliches Lachen, lausche der zarten, aber intensiven Stimme. Luzie singt den ganzen Tag. Sie hat eine wunderbare Stimme. Schon als kleines Kind trällerte sie mit wahrer Begeisterung. Immer. In der Badewanne, im Garten, im Schulchor und in ihrem Zimmer.

Singen gehörte zu ihrem Leben, so wie Luzie zu uns gehörte ...

Nein, sie gehört immer noch zu uns, selbst jetzt ... Fast fünfzehn Jahre nach ihrem Abschied.

So fing es an

1989 fiel die Mauer. Der pure Wahnsinn.

Es gab keine Innerdeutsche Grenze mehr. Der Eiserne Vorhang ... Gefallen, er war weg. Die friedliche Revolution hatte gesiegt.

Chapeau auf den Mut und die Durchhaltekraft der Menschen.

Ich hatte eine Flasche billigen Sekt geöffnet und mit meinem Mann Bertram angestoßen.

Im Nachhinein betrachtet hatte dies für mein Leben gar nicht so viele Vorteile. In der damaligen DDR war es ohne Probleme möglich, sich als Frau zu verwirklichen. Bitte nicht falsch verstehen. Ich meine die berufliche Verwirklichung. Es war ohne Probleme möglich, den Beruf zu ergreifen, den eine Frau sich wünschte und erträumte. Und ich wollte immer schon Medizin studieren. Und Psychologie.

Ich wollte als Frau das erreichen, was die Männer mit Leichtigkeit erreichen konnten. Und nichts bremste mich aus. Ich war eine gesunde, sportliche Frau. Konnte die besten Schulnoten vorweisen und mir damit das Tor zum Studium öffnen.

Die damalige DDR ermöglichte jedem ein Studium, förderte einen in jeder Hinsicht, sofern man »regelkonform« lebte. Nicht gegen den Staat rebellierte, keine feindlichen Kontakte aufbaute und auch sonst eher brav sein Leben fristete.

Das tat ich und durfte studieren. Mein Traum erfüllte sich.

Während dieser Studienzeit lernte ich Bertram kennen.

Das Jahr 1978

»Ich möchte ein Stück Fleischwurst und ein Brötchen«, rief ich der Bedienung über die Ladentheke zu. Es war laut in der kleinen Metzgerei. Aber ich liebte die selbst hergestellten Wurstwaren und einmal in der Woche leistete ich mir etwas Leckeres. Nachdem ich bezahlt hatte, verließ ich freudig das Geschäft.

Die Tasche mit den Büchern und Ausarbeitungen für die anstehende Lesung hatte ich unter den Arm geklemmt. Herzhaft biss ich ins Brötchen. Jeder Biss war ein Genuss und ich kaute intensiv lange, um den Geschmack vollends auszukosten. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich mich beeilen musste, damit ich pünktlich zur Vorlesung kam. Professor Dr. Kölbel duldete keine Verspätung. Da war er sehr penibel.

Kauend lief ich über die Straße, stolperte auf dem Kopfsteinpflaster, torkelte, versuchte krampfhaft das Brötchen und die unter den Arm geklemmte Tasche zu halten, als mich starke Arme auffingen und ich die Worte vernahm: »Vorsichtig, junges Fräulein!« Ich blickte in ein fröhlich aussehendes Gesicht, sah in zwei amüsiert schauende Augen und verschluckte mich an dem letzten Brötchenkrümeln. Im gleichen Moment hörte ich das Hupen eines heranfahrenden Trabis. Mir wurde bewusst, dass ich mitten auf der Straße stand. In den Armen eines fremden jungen Mannes lag, der mich vor einem Sturz bewahrt hatte, während ich mit einem Hustenanfall kämpfte.

»Kommen Sie!« Sanft schob mich der Mann auf den Bürger­steig und reichte mir ein Taschentuch, in das ich nach Luft schnappend hinein hustete.

»Puh!«, murmelte ich, atmete tief ein und aus, dabei wischte ich mir den Mund ab. »So etwas ist mir noch nie passiert. Es tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe.«

»Sie haben mich doch nicht belästigt. Es war mir ein Vergnügen, Sie zu retten.« Er lächelte mich an.

Verlegen schaute ich zum Boden. Dabei glaubte ich immer, eine selbstbewusste Frau zu sein. Konnte es fachlich mit jedem Mann aufnehmen und jede Diskussion gewinnen.

Und nun dies.

Ruth, vernahm ich meine innere Stimme. Ruth, dies ist kein Fachidiot, den du mit Argumenten überzeugen kannst. Das ist ein netter, junger Mann. Mach die Augen auf!

»Darf ich Sie heute Nachmittag zu einem Spaziergang einladen? Vielleicht können wir gemeinsam ein Eis essen gehen?«, fragte er und weckte mich aus meinen Gedanken.

Ich schaute in seine grünen Augen, dann auf meine Uhr. Verdammt. Meine Vorlesung.

»Ich muss los. Komme sonst zu spät.« Schon sauste ich davon. Meine Haare, die ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, flogen bei jedem Schritt hin und her.

»Heute Nachmittag an der alten Eiche vor dem Unigebäude? Vier Uhr?«, schrie er hinter mir her.

»Ja!«

Warum nicht?, dachte ich.

Die durchaus interessante Lehrveranstaltung von Prof. Dr. Kölbel, die sich an diesem Tag mit der Zytologie beschäftigte, also der mikroskopischen Untersuchung der Zellen aus unterschiedlichen Bereichen des Körpers, drang zwar an meine Ohren, aber nicht in mein Hirn. Denn dieses beschäftigte sich vornehmlich mit dem jungen Mann, seinen grünen Augen und dem Treffpunkt an der alten Eiche. Die Zeit ging mir nicht schnell genug um.

Endlich hatten wir kurz vor vier. Hastig verließ ich den Seminarraum, lief in die Toilettenräume, strich mir die einzelnen Strähnen glatt, die aus den zurückgebundenen Haaren stippten. Rieb mir mit den Handflächen über die Wangen, damit sie etwas Farbe bekamen, biss mir auf die Lippen, sodass diese durchblutet und auch ohne Lippenstift, den ich nicht besaß, gut aussahen und lächelte meinem Spiegelbild zu. Dann verließ ich das düstere Gebäude und sah den jungen Mann schon von Weitem im Schatten der Eiche auf und ab gehen.

Einen Moment verharrte ich, überlegte, ob ich, die stets vernünftige, klar denkende Ruth, die zielstrebig durchs Leben ging, sich wirklich mit einem Fremden treffen sollte. Aber war ich wirklich so vernünftig? Ich überlegte.

Margret und Renate, die schräg gegenüber von mir wohnten, sagten immer, ich sei steril und gefühllos. Nur weil ich noch nie einen Freund gehabt hatte. Und meine Tante Elfriede, die Schwester von Mama, meinte immer, für mich müsse man noch einen Mann backen. Das mit dem Backen habe ich nicht verstanden. Aber Tante Elfriede war sowieso etwas eigen. Toupierte sich jeden Morgen stundenlang die Haare, bis sie als Turm ihren Kopf schmückten. Feilte sich die Fingernägel ganz spitz, nur weil sie das in einer Illustrierten bei einem Besuch im Westen gesehen hatte, und zelebrierte das Waschen auf eine ihrer besonderen Art und Weise. Ich glaube, dass sie eine Waschphobie hatte. Ganz besonders die weißen Hemden von ihrem Dirk. Onkel Dirk war in der Partei ein hohes Tier. Jeden Morgen ein frisch gestärktes und gewaschenes Hemd war ein absolutes Muss. Und Tante Elfriede ging in dieser Tätigkeit voll auf: einweichen, vorwaschen, stärken, bleichen, waschen, bügeln.

»Merke dir, Ruth. Wenn du einen Mann glücklich machen willst, dann reiche ihm jeden Tag ein einwandfreies, faltenlos gebügeltes Hemd. Vor allem im Kragen dürfen keine Fältchen sein. Und an den Manschetten darf nie ein Knopf fehlen. Das ist wichtig!«

Bei diesen Bemerkungen unterdrückte ich ein Lachen, denn für mich war Gleichberechtigung das A und O. Nie würde ich meine Kräfte mit so nichtigen Arbeiten vergeuden wie waschen, putzen und aufräumen. Das hatte ich mir damals schon als Vierzehnjährige geschworen.

Ich wollte Karriere machen. Als Frau meinen Mann stehen. Beruflich erfolgreich sein. Und diesen Weg ging ich.

Ich schaute zur Eiche. Geh schon Ruth, meldete sich meine innere Stimme.

Und ich ging.

Bertram

»Schön, dass Sie gekommen sind.« Bertram sprach leise, seine Augen schauten mich freundlich an.

»Sollen wir spazieren gehen? Die Luft ist angenehm und die Sonne meint es gut.« Er wirkte auf mich ein bisschen aufgeregt. Machte ich ihn etwas nervös?

Ich klemmte mir die Tasche mit den Büchern unter den Arm. Ich mochte es, sie auf diese Weise zu tragen. Sah lässig und selbstbewusst aus, fand ich.

»Darf ich Ihnen die Tasche abnehmen? Sie sieht schwer aus.«

»Ich weiß nicht ..., eigentlich trage ich sie gerne selbst.«

»Aber Sie können doch mal eine Ausnahme machen. Ich bin größer und stärker und helfe gerne.«

»Wir kennen uns aber nicht.« Ich hielt die Tasche fest.

»Lässt sich ändern. Ich heiße Bertram Lange, bin Fernmeldebaumonteur, sechsundzwanzig Jahre alt, stets hilfsbereit, tierlieb und selten schlecht gelaunt.«

»Hört sich gut an«, sagte ich amüsiert, reichte ihm die Tasche und stellte mich vor.

»Medizinstudentin ... so so. Ein gebildetes Fräulein, also«, resümierte er.

»Solange ich nicht eingebildet bin, ist doch alles gut, oder?«

Das Gespräch plätscherte weiter, wir spazierten durch die Stadt, aßen unterwegs ein Eis im Hörnchen, lachten über dies und das und vergaßen die Zeit vollkommen.

Noch nie in meinen zweiundzwanzig Jahren habe ich mich so wohl gefühlt. Noch nie habe ich mich so offen und frei mit einem bis vor ein paar Stunden noch fremden Menschen unterhalten. Verständlich, dass wir längst beim Du angekommen waren. Klar, dass er mich nach Hause begleitete und wir uns bereits am nächsten Tag wiedersehen wollten.

Und eindeutig, dass mein Herz noch nie so schnell geschlagen hatte, wie an diesem Nachmittag.

Bertram.

Optisch erinnerte mich Bertram ein wenig an den Leadsänger der Band Karat: Herbert Dreilich.

Eigentlich genau mein Traumprinz: wallendes Haar, spitzbübischer Blick, selbstbewusst und ein offenes Lachen.

Stundenlang hörte ich mir den Song »Über sieben Brücken musst du gehen«, an. Immer und immer wieder. Sah Bertram vor meinen Augen, wie ich in seinen Armen tanzend durch den Raum schwebte.

Hatte ich mich etwa verliebt?

Tante Elfriede würde sich bestimmt freuen, denn nun musste sie für mich nicht mehr extra einen Mann backen.

Laut schmetterte ich die Liedzeile »manchmal ist mir kalt und manchmal heiß, manchmal weiß ich nicht mehr, was ich weiß«, wippte fröhlich mit den Füßen, sodass meine schulterlangen Haare, die ich gerne mit einem bunten Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammenband, hin und her wippten. Ich träumte vor mich hin. Dabei müsste ich eigentlich lernen. Professor Dr. Kölbel war knallhart, wenn die Studierenden auf seine Fragen keine Antwort parat hatten. Er schaute einen über den dunklen Brillenrand streng an und machte sich Notizen in sein schwarzes Büchlein. Dabei kratzte die Feder seines Füllers über das Papier und jeder der Anwesenden wusste, dass das kein gutes Zeichen war.

Ich kochte mir einen Kamillentee und versuchte Bertram aus meinem Kopf zu verdrängen. Krampfhaft konzentrierte ich mich auf die Fachliteratur.

Aber es fiel mir schwer.

An diesem Abend legte ich mich hundemüde, jedoch überglücklich ins Bett. Ich schlief wie auf rosa Wolken. Das Leben konnte so schön sein.

Die Wochen danach

Tante Elfriede schwebte im siebten Himmel. Immer wieder nahm sie mich in die Arme und flüsterte mir ins Ohr. »Ich freue mich so sehr für dich. Bertram ist fleißig, macht was man ihm sagt, seine Eltern sind brave Parteimitglieder. Dirk hat sich nach ihnen erkundigt. Ruth!« Sie schaute mir tief in die Augen, »Ruth, das ist der richtige Mann für dich.«

Mama und Papa sagten nichts zu meiner Freundschaft mit Bertram. Weder, ob sie ihn mochten, noch ob sie ihn nicht leiden konnten.

Sie arbeiteten rund um die Uhr. Mama beim Fernmeldewesen und Papa war Facharbeiter für Eisenbahntransporttechnik. Ich war Einzelkind und früh auf mich allein gestellt. Aber das war normal. Mütter konnten sich ein Jahr als Babyjahr freistellen lassen, dann fingen sie wieder zu arbeiten an. Der Staat sorgte für genügend Kita- und Krippenplätze. Bis zu zehn Stunden täglich wurden die Kinder dort versorgt. Von gut ausgebildeten Kindergärtnerinnen und Krippenerzieherinnen betreut.

Die Einrichtungen waren von sechs Uhr in der früh bis abends achtzehn Uhr geöffnet, sodass beider Elternteile voll berufstätig sein konnten.

Ich erinnere mich gerne an die Zeit. Ich malte mit Vorliebe Sonnenblumen und Vögel und bastelte kleine Blütenblätter. Allerdings mussten wir bereits als kleine Kinder Arbeiterfahnen malen. Das war nicht so mein Ding, ganz zu schweigen von den Liedern, die gesungen wurden. Lieder vom Sozialismus, von der Freundschaft zur Sowjetunion und vom Kampf für den Frieden. Eine Liedzeile, die mir besonders in Erinnerung blieb, hieß: »Mein Bruder ist Soldat, er schützt unseren Staat.«

»Warum muss ich das singen? Ich habe doch keinen Bruder«, fragte ich die Erzieherin. Aber da gab es kein Pardon.

Heute weiß ich natürlich, dass über allem das »Kollektiv« stand. Aber als Kind sieht man alles mit anderen Augen.

Jeder hatte zu singen. Ich auch. Ansonsten wurde sofort gedroht, es den Eltern mitzuteilen.

»Ihr Kind ist ungehorsam. Sehen Sie zu, dass das nicht noch einmal passiert. Sonst drohen Ihnen Konsequenzen.«

Als Schulkind hatte jeder die Möglichkeit, in den Hort zu gehen. Was ich gerne tat, denn dort konnte ich andere Kinder treffen. Zu Hause war es öde und langweilig. Tante Elfriede, die wegen eines schweren Hüftleidens nicht arbeiten konnte, kümmerte sich hier und da um mich. Sie war mir näher als Mama, die abends todmüde in die Wohnung kam, mir einen Kuss auf die Stirn gab und nur noch schlafen wollte. Papa gehörte zu der Sorte Väter, die sich überhaupt nicht um die Erziehung kümmerte.

»Mama macht das schon!« oder »Frag Mama, die erklärt dir das«, sagte er häufig, wenn ich ihn etwas fragte und legte sich aufs Ohr ... genauer gesagt auf unsere dunkelgrüne Stoffcouch, die neben dem Tisch mit den vier Holzstühlen stand. Auf der Tischdecke, die Mama selbst bestickt hatte, prangte eine graue Porzellanvase, in der nur an den Geburtstagen Blumen ihren Platz fanden. Blumen waren teuer. Gehörten zu den Luxusgütern.

Im Sommer pflückte ich manchmal Grashalme und Gänseblümchen, um Mama eine Freude zu bereiten. Aber die kamen nicht in die Vase.

»Die Stile sind zu kurz für die Vase. Ich stelle sie in ein Trinkglas«, erklärte Mama.

Das gefiel mir überhaupt nicht. Irgendwann pflückte ich keine Grashalme und Gänseblümchen mehr.

Und jetzt war ich zweiundzwanzig Jahre, studierte Medizin und liebäugelte mit dem Fach Psychologie. Ich hatte einiges von Kurt Gottschaldt gelesen. Er faszinierte mich mit seinen Schriften über die Sozialpsychologie, die Entwicklungspsychologie und die Persönlichkeitspsychologie. Für mich war die Verbindung zwischen Medizin und Psychologie naheliegend. Logisch. Einfach nicht wegzudenken. In beiden Bereichen geht es um den Menschen: sein Dasein, sein Leben, seine körperlichen und seine seelischen Funktionen. Der Mensch im Fokus der Wissenschaft.

Lernen fiel mir leicht. Zusammenhänge zu verstehen, war kein Problem für mich. Fachbegriffe konnte ich mir gut durch Eselsbrücken merken. Mit den Lehrbeauftragten stand ich in ständigem Kontakt. Alles in allem lag eine vielversprechende Zukunft vor mir. Und jetzt kam auch noch die Liebe dazu. Durfte ein Mensch so viel Glück auf einmal haben? Diese Frage kreiste oft in meinem Kopf. Hieß es nicht, dass zu viel Glück unglücklich macht? Das nach jedem Lachen auch Tränen fließen müssen?

Aber da war sie dann wieder, meine innere Stimme. Kopf hoch, Ruth. Nimm das Leben so wie es kommt. Bewahre das Glück, halte es fest und wenn du meinst, es verlässt dich, dann schau auf die kleinen Dinge im Leben. Du musst sie nur sehen.

Ja, ich liebte die kleinen Dinge, die mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnten. Dinge, die mit Geld nicht zu bezahlen waren, so wie die Eisblumen am Fenster, der Regenbogen nach einem Gewitter, der Marienkäfer mit den lustigen Punkten oder der Sonnenuntergang nach einem anstrengenden Tag.

Ich war stark. Innerlich. Und ich liebte Bertram. Aus ganzen Herzen.

Liebe macht stark, sagte schon meine Oma zu mir, wenn ich auf ihrem Schoss saß und sie mir liebevoll mit ihren abgearbeiteten Händen über den Kopf strich. Ihr Mann verstarb in jungen Jahren an Tuberkulose und sie musste die beiden Mädchen, Mama und Tante Elfriede allein großziehen.

In der damaligen Zeit eine Herkulesaufgabe, aber Oma war eine starke Frau, wie ich aus den vielen Erzählungen im Familienkreis erfahren habe. Eine Frau, die anscheinend in jedem noch so schlimmen Ereignis etwas Positives entdecken konnte. Durch den Tod ihres geliebten Mannes wurde sie die Frau, die alles schaffen konnte, so erzählte es meine Tante Elfriede häufig.

So wollte ich auch sein: Eine Frau, die alles schafft!

+++ +++ +++

Textprobe: Karin Büchel

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