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Cover "Yoga, Chaos und ein Mörder"     Leseprobe "Yoga, Chaos und ein Mörder"

von Kathrin Hölzle

Krimi, 229 Seiten, ISBN: 978-3-96050-141-1 

Inhalt

21 Kapitel

1. Kapitel

Die Verzweiflung in den Augen des armen Mannes, dessen Leben ich allein mit einem einzigen Satz gerade zu zerstören drohte, bemerkte ich gar nicht, denn schließlich machte ich doch nur meinen Job und die Entscheidung, dass wir seine Arbeitskraft bei uns im Unternehmen ab sofort nicht mehr benötigten, hatte nicht ich, sondern der herzlose Inhaber dieser gut gehenden Firma getroffen. Das Zauberwort hierfür hieß schlicht und ergreifend »Stellenabbau«. Ich war in diesem miesen Spiel nur der Bote, der die Aufgabe, die schlechte Nachricht zu überbringen, gerade mit der nötigen Distanz und zur vollsten Zufriedenheit des obersten Chefs ausgeführt hatte. Zwar wäre vielleicht ein wenig Mitleid angebracht gewesen, aber ich empfand irgendwie absolut nichts. Dieser Job war sehr gut bezahlt und obwohl er mitunter mit viel Stress verbunden war, erledigte ich ihn offensichtlich sehr gut, was mir ein Blick auf die neue Gehaltsabrechnung wieder einmal bestätigte.
Doch vollkommen unerwartet war am Nachmittag desselben Tages nun der Zeitpunkt gekommen, an dem ich zum ersten Mal seit Jahren wieder etwas fühlte. Ich saß auf einem Stuhl in einer Klinik und Panik und Todesangst zugleich machten sich in mir breit. Vor mir saß meine Ärztin und hatte zur Abwechslung einmal mir eine schlechte Nachricht überbracht. Nun wurde mir schlagartig bewusst, wie sich all die armen Menschen, die im Laufe meiner Karriere vor meinem Schreibtisch gesessen und von mir eine schlechte Nachricht erhalten hatten, in diesem Moment gefühlt haben mussten. Innerhalb von Sekunden erfuhr ich, wie schlimm es tatsächlich um mich stand und was mir nun bevorstand. Eine eiskalte Hand griff in diesem schicksalhaften Moment nach mir und packte mich im Genick. Sie schüttelte mich ordentlich durch. Habe ich heute Schuld auf mich geladen und bekomme nun meine gerechte Strafe von oben?
Dieser Gedanke kam mir als erster in den Sinn, nachdem mich die eiskalte Hand endlich wieder losgelassen hatte. In diesem Moment, als ich nun selbst an der Reihe war und ebenfalls eine niederschmetternde und mein bisheriges Le-ben verändernde Nachricht erhielt, ging mir ein Licht auf. Ich konnte mich plötzlich sehr gut in andere Menschen hin-einversetzen und mir vorstellen, wie sie sich wohl fühlen mochten, wenn sie am Abgrund ihres Lebens standen. 
Vor dem Schicksalsschlag, der mich so unerwartet getrof-fen hatte, dass ich das Gefühl hatte, das alles passierte gar nicht mir, sondern einer Frau, die nur zufällig genauso aus-sah wie ich, hatte ich mein schickes Leben in der Münchner City gelebt und gedacht, ich wäre glücklich damit. Die Tatsache, dass diese Art von Leben eigentlich gar nicht zu meiner Person passte, hatte ich viele Jahre lang einfach ignoriert. Aber mein Körper hatte mir heute die Quittung dafür präsentiert, indem er nun einfach und für mich völlig unerwartet zusammengebrochen war. Ich hatte das Gefühl, nur der Zuschauer zu sein, der mit einem Glas Wein in der Hand und Tränen der Rührung in den Augen von seinem Sofa aus zusah, so als würde er sich einen dramatischen Film ansehen, unfähig, in die Handlung einzugreifen, aber gefesselt davon, wie die Story wohl enden würde. In vielen dieser Filme wird am Ende alles wieder gut, aber wie wird der Film meines Lebens wohl enden? Da ich gleich in der Klinik bleiben musste, hatte ich in der kommenden Nacht sicher genug Zeit, um darüber nachzudenken. Das Leben, welches ich bis gestern geführt hatte, war vielleicht ein wenig langweilig und vorhersehbar gewesen, aber wenigstens hatte ich nie die Probleme von anderen Menschen gehabt, die ein normales Leben mit Haus, Kindern und einem Familienhund führten. Nein, ich hatte einen Mann mit einem ebenso herzlosen Job wie dem meinen und fuhr ein schickes Auto. Wir wohnten gemeinsam in einem sündhaft teuren Loft mitten in München und ließen es uns einfach nur gut gehen. Aber etwas Entscheidendes fehlte meinem bequemen Leben, nämlich Gefühle. Obwohl wir diese nicht wirklich vermissten. So hatte ich jedenfalls immer gedacht und damit böse Gedanken an etwas, das es bei mir nicht gab, erfolgreich vertreiben können. Meine Arbeit, der ich vorher praktisch verfallen gewesen war, kam mir plötzlich so sinnlos vor und ich wollte den Rest meines mir geschenkten zweiten Lebens so verbringen, wie es schon immer mein heimlicher Wunsch gewesen war, den ich nur nie an die Oberfläche gelassen und all die Jahre einfach immer wieder verdrängt hatte. Meine Kreativität hatte ich die ganzen Jahre erfolgreich im Keim erstickt und stattdessen in meinem Job das Leben von anderen Menschen zerstört, indem ich ihnen ihre Existenzgrundlage nahm. Gut, es war in den meisten Fällen nicht meine Entscheidung gewesen, denn ich handelte auf Anweisung von »ganz oben«, aber Skrupel kannte ich wiederum auch nicht und deshalb machte ich mich mitschuldig. Völlig unbeeindruckt von den deprimierten Gesichtern der Menschen, denen ich die schlechten Nachrichten überbracht hatte, erledigte ich emotionslos meinen Job und konnte mich dabei nicht in diese Menschen hineinversetzen. 
Der Moment, in dem ich meinen Mann dann drei Monate später um die leider nicht zu umgehende Scheidung bat, war genauso emotionslos wie beinahe unsere gesamte Ehe. Nachdem er mich in der Klinik hilflos an Schläuche gefesselt gesehen hatte, aus denen die Infusionslösung der Chemotherapie langsam in mich hineinlief und mir meine Kraft und mein strahlendes Aussehen – zumindest vorübergehend – nahm, war er über meine Nachricht, dass ich ihn verlassen würde, sichtlich erleichtert. Denn schwache, kranke Menschen waren ihm einfach zuwider und der Gedanke, sich um mich kümmern zu müssen, bereitete ihm mehr als nur Unbehagen. Doch Gott sei Dank schöpfte ich aus meinem neuen Lebensziel entgegen aller Erwartungen so viel Kraft, dass ich mich so schnell von den Strapazen der Therapie erholte, dass ich nicht besonders lange auf fremde Hilfe angewiesen war. Als ich endlich am Ende dieses Abgrundes stand und tatsächlich eine zweite Chance erhielt, sagte ich einfach nur laut und mit Tränen in den Augen: »Danke!« Danach war ich ein ganz neuer Mensch, der gerade beschlossen hatte zu kämpfen und sein altes Leben komplett hinter sich zu lassen. Ab sofort würde mein wahres Ich, welches ich bisher erfolgreich hatte unterdrücken können, mein Leben in die Hand nehmen.
Es erfordert Mut und innere Stärke, das Leben, welches man bisher in dem Glauben geführt hat, dass es ein absolut schönes, erstrebenswertes wäre, in all seinen Bereichen hinter sich zu lassen, um einen kompletten Neuanfang wagen zu können. Doch genau in dieser Phase meines Lebens war ich nun verzweifelt genug, um endlich erkennen zu können, dass sich meine Seele nach diesem Neuanfang sehnte. Außerdem war es an der Zeit, einmal etwas völlig Verrücktes zu tun und aus den alten Mustern auszubrechen. Ich gab also dem tiefsten Wunsch, der schon länger in mir schlummerte, nach und warf alles, was mir bisher wichtig gewesen zu sein schien, über den Haufen. Ich wollte endlich echtes Glück spüren, mein Herz öffnen und die Lebensfreude die Oberhand gewinnen lassen. Mein Plan dazu lautete fürs Erste: ein neues Haus kaufen, einen Hund aus dem Tierheim retten und mit Yoga anfangen. Beim Rest würde ich mich zur Abwechslung mal vom Leben überraschen lassen. Hätte ich doch nur geahnt, welche Überraschungen es für mich bereithielt …  

2. Kapitel

An einem sonnigen Tag im Mai, einem Samstag, hatte ich einen Termin mit der Maklerin vereinbart. Ich traf pünktlich und natürlich voller Vorfreude an dem Haus, in dem ich meine neue Oase schaffen wollte, ein. Meine Erwartung wurde erfüllt, ja, sogar übertroffen. Ich konnte meine Euphorie kaum vor der Maklerin verbergen. Obwohl eine solche Reaktion für die anschließende Preisverhandlung nicht von Nutzen sein konnte, wusste ich in dem Moment, dass ich ohne Zögern auch den vollen Preis bezahlen würde, denn ich wollte genau dieses Anwesen haben. Der idyllische Anblick meines neuen Zuhauses raubte mir beinahe den Atem und gab mir das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Die schönen Worte der Maklerin, die das Objekt in den höchsten Tönen lobte, wären im Grunde nicht nötig gewesen, denn ich hätte es sowieso sofort nach der ersten Besichtigung gekauft. Die Worte der Frau nahm ich nicht mehr richtig wahr, denn in Gedanken hatte ich meine Unterschrift schon unter den Kaufvertrag gesetzt. Am Rande hörte ich noch, wie die nette Dame mir erklärte, dass die Vorbesitzerin bereits ausgezogen wäre und das Land verlassen hätte. Sie hatte ihr offensichtlich eine Vollmacht erteilt, um den Kaufvertrag in ihrem Auftrag rechtskräftig unterzeichnen zu können, oder hatte bereits blanko ihre Unterschrift unter den Vertrag gesetzt. Egal, es interessierte mich nicht, denn ich wollte nur endlich die neue Eigentümerin dieses Objektes werden. Einige Möbel hatte die Dame, die es bei ihrem Auszug offenbar sehr eilig gehabt hatte, ebenfalls zurückgelassen. Die Maklerin sagte, dass ich sie behalten oder auch entsorgen könnte, ganz wie ich wollte. Jedenfalls wurde das Objekt verkauft wie gesehen. Mir sollte alles recht sein, wenn ich nur so schnell wie möglich hier einziehen konnte. Vielleicht fand sich ja unter den zurückgelassenen Sachen noch irgendetwas Spannendes. Meine Fantasie ging ein wenig mit mir durch. 
Weshalb die Frau das Land verlassen hatte, hinterfragte ich nicht. Ein Fehler, wie sich später noch herausstellen sollte. Mein Interesse galt leider nur dem sehr alten, aber unter der Regie der Vorbesitzerin äußerst geschmackvoll renovierten Anwesen, bestehend aus einem großen Wohnhaus, einem kleinen, sehr niedlichen Gästehaus, welches ich gedanklich sofort für mich als Atelier einplante, und einem großen, gut erhaltenen Stallgebäude mit genügend Platz für die Tiere, deren Anschaffung ich bereits beschlossen hatte. Das Ganze befand sich auf einem weitläufigen Grundstück, welches komplett von einem Zaun umgeben war. Die neue und moderne Doppelgarage mit weißem Tor passte nicht so ganz in das Gesamtbild, aber trotzdem war eine Garage schon eine nützliche Sache, vor allem, wenn man durch eine Tür direkt ins Haus gelangen konnte, ohne über den Hof gehen zu müssen. Die angebaute Terrasse aus Holz mit Überdachung, welche man über eine große Terrassentür im Wohnzimmer oder vom Hof aus erreichen konnte und von der aus man einen wunderschönen Blick auf den dahinterliegenden Wald genießen konnte, war sozusagen das Tüpfelchen auf dem i und ich fragte die Maklerin begeistert: »Wo muss ich unterschreiben?«
Sie lächelte zufrieden und antwortete: »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Entscheidung und werde sofort einen Termin beim Notar vereinbaren!«
Nachdem wir uns überschwänglich verabschiedet hatten, ließ ich meinen Blick noch einmal über mein hoffentlich bald neues Zuhause schweifen, bevor ich in meinen Wagen stieg, um wieder nach München zu fahren. Das ganze Anwesen, oder besser gesagt Gehöft, erreichte man über eine schöne, mit Kies bedeckte Einfahrt, welche ich nach der Besichtigung glücklich entlangfuhr. Im Vorbeifahren grüßte ich höflich meinen einzigen zukünftigen Nachbarn, einen – wie mir die Maklerin nebenbei mit einem Augenzwinkern mitgeteilt hatte – alleinstehenden, gut aussehenden Mann in meinem Alter. Und ihrer Ansicht nach war das Beste daran, dass er Single war. Ich hoffte jedoch meinerseits, dass ich ihm nicht zu gut gefiel, denn auf der Suche nach einem Mann war ich ganz gewiss nicht. Meine Hoffnungen diesen Mann betreffend beschränkten sich ausschließlich auf ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis und nicht mehr. Er schien sich sehr auf meinen Einzug zu freuen und lächelte mich mit versonnenem Blick an, während er mir zuwinkte und meinem Wagen hinterherschaute, bis ich endlich die Hauptstraße erreichte. Ich nahm mir vor, ihm gegenüber von Anfang an mit offenen Karten zu spielen. Vielleicht konnte ich ihm bei einer Tasse Kaffee unter Nachbarn auf meiner Terrasse Informationen über die Vorbesitzerin entlocken, denn je mehr ich während der Heimfahrt darüber nachdachte, desto mehr fragte ich mich, weshalb sie so Hals über Kopf das Land verlassen hatte, ohne den Verkauf des Hauses abzuwarten. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt hätte ahnen können, welches schreckliche Geheimnis sich hinter der Flucht meiner Vorgängerin verbarg, würde ich heute vielleicht nicht hier wohnen, aber ich war vor Freude so arglos, wie man nur sein kann.
An diesem Tag war ich nun zum letzten Mal auf dem Rückweg in mein altes Leben, aber nur, um meine bereits gepackten Sachen abzuholen, als meine Gedanken weit abschweiften. Ein Leben in Einsamkeit zu führen, ist für die meisten Menschen eine grauenhafte Vorstellung. Doch nicht so für mich, denn ich musste der Hektik von München und damit meinem alten Leben einfach entfliehen, um mich selbst wiederfinden zu können. Ich sehnte mich nach Einsamkeit. Und den passenden Ort, an dem ich in Zukunft meine Einsamkeit genießen wollte, hatte ich erstaunlich schnell gefunden. 

Ein Jahr später war mein Notfallplan umgesetzt und zu meinem Glück erfolgreich gewesen. Mein altes Leben exis-tierte nicht mehr und meinen größten Feind, den Krebs, hatte ich – zumindest vorerst – erfolgreich besiegen können. Und so hatte die Operation »Neuanfang« noch schneller als erhofft die Zielgerade erreicht. Ich hatte schon kurze Zeit später ganz spontan mit Yoga begonnen und konnte plötzlich nicht genug davon bekommen. Mit jedem Tag fühlte ich mich besser und stärker. Dank meiner zahlreichen neu entdeckten Lieblingsbeschäftigungen – Yoga und das Schreiben von Kriminalromanen – fühlte ich mich innerhalb kürzester Zeit in meinem neuen Domizil so wohl wie noch nie in meinem ganzen Leben. Inzwischen war es wieder Sommer geworden und mein Leben erschien mir beinahe perfekt zu sein, weil ich es mir endlich so eingerichtet hatte, wie es eigentlich meiner Natur entsprach.
Ich lebte nun schon seit einiger Zeit allein auf meinem gro-ßen Gehöft mitten in der bayerischen Wildnis nahe der ös-terreichischen Grenze mit nur dem einen, immer noch etwas unheimlichen Nachbarn und war bisher sehr glücklich damit. Das Glücklichsein bezog sich nur auf mein neues Leben und nicht auf meinen Nachbarn, versteht sich! Meine Mitbewohner waren ausnahmslos vierbeinig, bis auf Otto, der zwar zweibeinig war und eigentlich hätte sprechen können müssen, aber deshalb auch nicht menschlicher Natur war. Er war ein Papagei, von dem ich mir eigentlich erhofft hatte, dass er das Sprechen erlernen würde, aber er wollte anscheinend nicht mit mir reden und ich akzeptierte es. Von menschlichen Mitbewohnern, vor allem von männlichen, hatte ich die Nase voll. Nach zwei gescheiterten Ehen und obwohl es immer hieß, an einer gescheiterten Ehe wären immer beide Schuld, stimmte das in meinem Fall nicht, aber dazu später mehr. Früher war ich ein ganz anderer Mensch gewesen. Tiere waren etwas gewesen, das man auf einem Bauernhof hielt, aber keinesfalls in einer durchgestylten Designerwohnung. Meine beiden Ex-Ehemänner vertraten diese Meinung ebenfalls. Heute war nun alles anders, denn ich hatte meinen eigenen, kleinen Bauernhof. Mein Leben war nicht mehr schwarz-weiß, sondern bunt und voller Lebensfreude. Während früher nur ein Blick auf die Kontoauszüge unserer zugegebenermaßen gut gefüllten Konten kurzfristig so etwas wie Lebensfreude erzeugt hatte, so war es heute ein ausgiebiger Spaziergang mit meinem Bodyguard im Wald. Mein Bodyguard hieß übrigens Rufus. Er hatte schwarzes Fell und hätte sein Leben für mich geben. Ein Rottweiler, der trotz seines etwas bedrohlichen Aussehens ein ganz Lieber war. Früher wäre ich bei seinem Anblick glatt geflüchtet und nun schlief er in meinem Bett neben mir.
Mein neues Haus sah inzwischen aus wie die Kulisse aus einem Rosamunde Pilcher-Film: der perfekte Landhaustraum in Farbe, jedoch mit einem Hauch von Long Island-Strandfeeling. Und dann war da noch mein Yogazimmer, welches ich im asiatisch-orientalischen Stil mit Buddhafiguren und bunten Stoffen an den Wänden eingerichtet hatte. Natürlich besaß ich auch jede Menge Orchideen, die sogar meine Pflege bis jetzt überlebt hatten, und mein ganzer Stolz war ein Ginseng Bonsai, der entgegen aller Erwartungen bisher prächtig gedieh. Früher hätte ich über solche Personen, wie ich jetzt eine war, sicherlich nur gelacht, aber Menschen ändern sich. Ich hatte wochenlang dekoriert, bis jedes kleine Detail perfekt meiner Vorstellung entsprach, und nun nannte ich mein Haus meine »Wohlfühloase mit offenem Kamin«. Es war der totale Gegensatz zu meiner früheren schicken Penthouse Wohnung in München, die so puristisch und modern eingerichtet gewesen war, dass man dort selbst im Hochsommer manchmal angefangen hatte zu frieren. Die vorherrschenden Farben waren Schwarz und Weiß gemixt mit den Materialien Glas und Chrom gewesen. Bunte Farben waren uns fremd und bestenfalls etwas für Hippies. Für Kinder war in unserem Leben auch kein Platz und keine Zeit gewesen. Nun war es dafür unwiederbringlich zu spät, aber daran trug ich ja selbst auch die Schuld. Diese Wohnung hatte einfach keine Seele gehabt, aber genau zu der alten Martina Neumann gepasst, die ich damals noch gewesen war: Eine arrogante und eiskalte Personalmanagerin bei einer großen Firma, deren Aufgabe es war, unliebsam gewordene Mitarbeiter an die Luft zu setzen. Da ich wie ein Roboter funktioniert hatte und keinerlei Mitleid empfand, leistete ich wunderbare Arbeit, bis eines Tages mein weiteres Schicksal von einer höheren Macht besiegelt worden war und meine eigene Karriere so schnell zu Ende war, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Die Liebe hatte bisher in meinem Leben keine große Rolle gespielt, doch nun war ich aus diesem Albtraum erwacht, hatte den Krebs besiegt und war heute eine neue, stärkere Tina Neumann, die nur noch tat, was ihr selbst gefiel und sich bestimmt nie wieder einem Diktat unterwerfen würde, bei dem ihre eigene Persönlichkeit auf der Strecke blieb. Früher hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass ich einmal eigene Haustiere haben würde. Und nun hatte ich einen ganzen eigenen Zoo.
Außerdem ging ich Hobbys nach, von denen ich nicht er-wartet hätte, dass ich darin so begabt wäre. Meine Malerei und meine Schreiberei brachten mir inzwischen so viel Geld ein, dass ich davon gut leben konnte. Das Einzige, das ich noch nicht geschafft hatte, war, Otto das Sprechen beizubringen, aber vielleicht lag die mangelnde Begabung ja an ihm und nicht an mir. Ich hatte inzwischen schon stundenlang vor seinem Käfig gesessen und mit ihm gesprochen, aber er ignorierte mich und sagte bisher leider noch keinen Ton. Ansonsten ging es mir hier draußen wunderbar und ich wollte nie wieder in mein altes Leben zurück. Morgens genoss ich mein Frühstück bei gutem Wetter im Schlafanzug draußen im Garten oder trank bei schlechtem Wetter meinen Kaffee einfach im Bett. Früher hatte mein Frühstück aus einem Espresso im Stehen an der Küchentheke bestanden, dauernd unterbrochen von hektischen Blicken auf die Uhr. Nun hatten die Uhren in meinem Haus eher eine dekorative Funktion, denn ein Leben streng nach der Uhr gab es bei mir nicht mehr. Obwohl ich doch morgens immer fast zur selben Zeit aufstand, mich dabei glücklich fühlte und auf den Tag freute. Auch etwas, das ich früher nicht gekannt hatte.
Leider hatte es viele Jahre gedauert, bis ich begriff, dass jeder für sein eigenes Glück zuständig ist und die Möglichkeit haben sollte, sein Leben so zu führen, wie er möchte. Ich hatte dieses Glück nun endlich gefunden, indem ich zu meinem alten Leben eine klare Grenze gezogen und alles Belastende hinter mir gelassen hatte. Einige belächelten mich dafür zwar, zum Beispiel meine Ex-Kollegen im Büro, die aber eventuell ja auch nur neidisch auf meine neue Ausgeglichenheit waren, und mein Exmann Jochen, der mich bei unserem letzten Treffen vor dem Scheidungsanwalt als »völlig verwirrte Hippiebraut« bezeichnet hatte. Aber darüber konnte ich nur müde lächeln. Er hatte zum Abschied gesagt: »Hast du dich mal im Spiegel angesehen, wie du aussiehst mit deinen Lotusblütenketten, glitzernden Armbändern und den bunten Fummeln? Ich erkenne dich echt nicht mehr wieder.«
Das ist auch gut so, dachte ich in dem Moment lächelnd. Natürlich hatte ich meine teuren Designerkostüme gegen farbenfrohe Tuniken und Bluejeans mit Rissen an den Knien getauscht und fühlte mich sehr wohl mit dieser Entscheidung.
Innere Ruhe und Ausgeglichenheit fand ich beim Yoga. Nach dem ersten Sonnengruß und dem ersten »nach unten blickenden Hund« fühlte ich mich endlich frei von allen Überbleibseln aus meinem alten Leben. Lebensfreude gaben mir meine zahlreichen tierischen Mitbewohner.
Meine neue Aufgabe, die mir so viel Spaß machte, dass ich teilweise schon ganze Nächte durcharbeitete, war das Schreiben von Kriminalromanen. Nach gewissen Anfangs-schwierigkeiten, die wohl normal waren, denn noch kein Genie ist einfach so vom Himmel gefallen, war ich sogar recht erfolgreich damit. Mein Pseudonym lautete Tina Le-onardo und mein richtiger Name war Martina Neumann, von allen Tina genannt.
Inzwischen hatte ich gerade meinen dreiundvierzigsten Geburtstag allein und glücklich gefeiert, fühlte mich aber dank Yoga und halbwegs gesunder Ernährung meistens wie damals mit zwanzig. Nur an manchen Tagen erinnerte ich mich wieder daran, was mein Körper hatte durchmachen müssen, und fühlte mich dann für einen Moment, als wäre ich schon achtzig, weil eine Chemotherapie eben ihre Spuren hinterlässt. Aber ich kannte meinen Körper inzwischen sehr genau und mutete ihm nie mehr zu, als er verkraften konnte. 
Auch die Malerei hatte ich für mich neu entdeckt. Der Tag, an dem ich die erste weiße Leinwand auf meine neue Staffelei stellte und damit begann, diese mit Leben zu füllen, war ein Gefühl, als hätte ich einen Sechser im Lotto. Inzwischen hatte ich schon drei meiner Werke gewinnbringend verkauft. Beim Yoga lief es anfangs schwieriger als gedacht. Auf der DVD mit dem Anleitungsvideo hatte alles so einfach ausgesehen, aber als ich dann versuchte nachzumachen, was die nette und überaus gelenkige sowie enorm biegsame Lehrerin vormachte, musste ich zugeben, dass ich darin kein Naturtalent war, aber mit der Zeit wurde ich besser, auch wenn ich den sogenannten Schulterstand bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal hinbekommen hatte. Wahr-scheinlich überwog nur die Angst, mir dabei das Genick zu brechen. Im Falle eines derartigen Unfalls hätte es unter Umständen Wochen gedauert, bis mich hier draußen je-mand fand. Zum Glück gab es auf der DVD auch eine vereinfachte Version für Anfänger, die ich täglich in meinem neu geschaffenen Yogazimmer absolvierte.

Leider hatte ich nun seit ein paar Wochen ein kleines Prob-lem, denn entweder schien es in meinem Haus zu spuken oder jemand versuchte absichtlich, mir Angst zu machen. Da standen plötzlich Gegenstände an anderen Stellen oder es fehlten Wäschestücke von der Leine. Ich hatte da so einen Ordnungsfimmel, denn ich mochte es, wenn sich jeder Gegenstand genau an dem für ihn vorgesehenen Platz befand und ich merkte sofort, wenn jemand etwas in meinem Haus verändert hatte. So fiel mir auch gleich auf, dass die Reihenfolge der drei farbigen Glasvasen auf meinem weißen Wandbord aus Holz nicht mehr stimmte, als ich ein paar Tage zuvor vom Einkaufen nach Hause gekommen war. Da ich kaum glaubte, dass eines meiner Haustiere meine Glasvasen verschieben konnte, musste wohl ein menschliches Wesen im Haus gewesen sein, und zwar ohne dabei jegliche Einbruchsspuren zu hinterlassen.
Und dann kam da noch dieser Albtraum hinzu, der mich in der darauf folgenden Nacht quälte. Am Morgen danach war ich davon überzeugt, dass meine Vorgängerin, also die Vorbesitzerin dieses Hauses, genau in diesem Haus ermordet worden war. Natürlich fehlten mir jegliche Beweise für meine Vermutung, aber ich würde Nachforschungen dazu anstellen und den Dingen auf den Grund gehen. Notfalls würde ich sogar eine kleine Séance abhalten, um Kontakt mit dem Geist der Vorbesitzerin aufzunehmen. Mein Traum war so detailliert und realistisch gewesen, das konnte einfach kein Zufall sein und der Spuk in meinem Haus ergab dadurch auch endlich einen Sinn. 
Als dann die Erinnerung an die bunt bemalte, kleine Holztruhe, die ich bei meinem Einzug auf dem Dachboden gefunden hatte, plötzlich zurückkehrte, musste ich einfach wissen, welche Geheimnisse sich in dieser wunderschönen Truhe verbargen. Bisher kannte ich den Inhalt noch nicht, da er nicht mir, sondern der Vorbesitzerin des Hauses gehörte und ich ihr die kleine Holztruhe eigentlich noch irgendwann zurückgeben wollte, aber nun hatten sich die Dinge einfach geändert und ich stieg die Treppe zum Dachboden hinauf. Wenn mein Albtraum kein Albtraum, sondern die Realität war, dann würde ich vielleicht in dieser wunderschönen kleinen handbemalten und antik anmutenden Holztruhe die Antwort auf meine Fragen finden.
Das Licht der Deckenleuchte auf dem Dachboden fiel spärlich auf die dicken Balken, aber der Lichtschein genügte, um in der hintersten Ecke die besagte Holztruhe zu finden.
Ich trug meine Beute neugierig nach unten und setzte mich damit vor den Kamin, in dem noch ein kleiner Rest des Feuers brannte. Nach einem weiteren Schluck Rotwein und mit einem etwas mulmigen Gefühl in Erwartung dessen, was ich darin eventuell zu finden vermochte, wollte ich den Deckel aufklappen, musste dabei aber feststellen, dass die Truhe offenbar verschlossen war. Ein kleines Schlüsselloch, welches ich bisher glatt übersehen hatte, befand sich auf der Vorderseite und ich war für einen Moment ratlos. Im Knacken von Schlössern, zu denen mir der passende Schlüssel fehlte, besaß ich keinerlei Erfahrungen und ich wollte die kleine Truhe auch nicht kaputtmachen, indem ich sie etwa gewaltsam öffnete. Aber in diversen Krimis hatte ich andere Menschen beim Knacken von Schlössern verfolgt und holte mir eine Büroklammer vom Schreibtisch, die ich dann zu einer Art Haken bog. Mit geschickter Fingerfertigkeit gelang mir nach einigen Fehlversuchen die Öffnung des Schlosses und ich klappte zufrieden den hölzernen Deckel hoch.
Ein etwas muffiger Geruch stieg mir in die Nase, aber immerhin hatte das gute Stück einige Zeit auf dem Dachboden gestanden und war sicherlich schon sehr alt, vielleicht sogar antik und wertvoll. Von unsäglicher Neugier gepackt, legte ich den Inhalt der Holztruhe fein säuberlich vor mich hin auf die eigens dafür bereitgelegte Wolldecke. Diese wunderschön bemalte Holztruhe besaß einen doppelten Boden, den ich aber zunächst nicht bemerkte. Später sollte ich darin noch etwas Schreckliches finden.
Unter vielen anderen Dingen befand sich neben einer lan-gen, blonden und lockigen Haarsträhne, einer silbernen Kette mit einem Anhänger in Form eines Skorpions mit zwei roten Steinen als Augen, der vermutlich ein Hinweis auf das Sternzeichen seiner Besitzerin war, und diversen Fotos unter anderem auch ein Tagebuch, welches für mich eindeutig zu den interessantesten Dingen gehörte. Zunächst suchte ich in meinen Unterlagen nach der Abschrift des Kaufvertrages für mein Haus, um festzustellen, wann der Geburtstag von Hanna Gebauer war. Ich stellte fest, dass der Skorpion nicht ihr Sternzeichen war. Sie war eine Waage, also musste der Skorpion eine andere Bedeutung haben. Welche es war, würde ich schon noch herausfinden. Meine Neugier am Leben dieser Frau war geweckt. Obwohl man das Tagebuch fremder Leute sicherlich nicht lesen sollte und ich auch ein schlechtes Gewissen der Besitzerin gegenüber hatte, musste ich es einfach tun, und was ich darin las, beunruhigte mich zugegebenermaßen doch sehr. Eines stand jedenfalls fest: Diese Frau, die vor mir und wie ich ganz allein in diesem Haus gelebt hatte, musste vor etwas oder vielmehr vor je-mandem so schreckliche Angst gehabt haben, dass sie, ebenfalls wie ich, von Albträumen geplagt worden war. Und vermutlich war das auch der Grund für ihre Flucht ins Ausland gewesen, wo auch immer sie sein mochte.  Andererseits lag es ebenfalls im Bereich des Möglichen, dass sie nicht mehr am Leben war. Doch diesen Gedanken verbannte ich zum Selbstschutz erst einmal ganz schnell aus meinen Gedanken, obwohl mir bereits in diesem Moment klar war, dass mir dies nicht allzu lange gelingen würde, denn ich war als bekennender Krimi-Fan schon von Natur aus neugierig und wenn ich auch inständig hoffte, die arme Frau mit den langen, blonden Haaren möge noch am Leben sein, so wollte ich doch auch Gewissheit darüber haben, weshalb der Kaufpreis des Hofguts so überaus günstig gewesen war und ob die Maklerin mir vielleicht ein kleines, aber feines Detail verschwiegen und meine Begeisterung für das Anwesen zu ihren Gunsten ausgenutzt hatte. Mir fiel gerade ein, wer eventuell etwas mehr über den Verbleib meiner Vorgängerin wissen könnte, und zwar mein Nachbar. Aber ihn direkt darauf anzusprechen, dürfte Überwindung kosten, denn schließ-lich befand er sich aus meiner Sicht eindeutig im Kreis der Verdächtigen.
Ich hielt das Foto von der Frau noch immer gedankenverloren in der Hand, als ich wieder in die Gegenwart zurück-kehrte und feststellte, dass die mir bisher fremde Frau nun also ein Gesicht hatte und mir damit gar nicht mehr so fremd vorkam. Irgendetwas an ihr kam mir sogar sehr be-kannt vor. Ich hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, nur wusste ich im Moment nicht mehr, wo es gewesen war.
Die Maklerin, die mir das Haus verkauft hatte, hatte mir ja gleich bei der Besichtigung gesagt, dass die Eigentümerin im Ausland lebte und deshalb nicht persönlich erscheinen würde. Ich hatte diese Information nicht weiter hinterfragt. Wenn nun nicht dieser Spuk in dem Haus begonnen hätte, wäre diese kleine Holztruhe sicherlich in Vergessenheit ge-raten und ich hätte mir keine Gedanken mehr darüber ge-macht, aber nun musste ich einfach wissen, was hier genau passiert war und ob die Frau wirklich im Ausland lebte oder ob sie nicht vielmehr unfreiwillig ihre letzte Ruhestätte irgendwo hier auf dem Grundstück gefunden hatte. Immerhin wäre es, wenn auch nur theoretisch, möglich, dass der Mörder dieser Frau, falls es ihn gab, nun auch mich ins Visier genommen hatte. Obwohl ich nicht wusste, welches Motiv er dafür haben könnte, jagte mir der Gedanke daran einen eiskalten Schauer über den Rücken.
Besonders gruselig war es jedoch ein paar Tage vorher gewesen, als ich mir an einem lauen Sommerabend eine leckere Pizza geholt hatte und diese auf der Terrasse genießen wollte. Als ich noch mal in die Küche ging, um eine Flasche Wein und ein Glas zu holen, und dann wiederkam, war die Pizza samt Karton verschwunden. Zunächst hatte ich an einen armen Landstreicher gedacht, der so hungrig gewesen war, dass er nicht an sich halten konnte, aber der wäre niemals an Rufus, meinem Rottweiler und persönlichem Bodyguard, vorbeigekommen. Den hatte ich aus dem Tierheim befreit und aus lauter Dankbarkeit hätte er für mich auch getötet, wenn jemand zum Beispiel versucht hätte, meine Pizza zu entwenden. Nein, so krass natürlich nicht, aber auf jeden Fall hätte er ordentlich geknurrt und gebellt. An diesem Abend hatte ich so richtig Angst bekommen und mich im Haus verbarrikadiert.
Ein paar Tage später stellte sich dann heraus, dass es wohl doch Rufus selbst gewesen war, der dieser leckeren Salamipizza nicht hatte widerstehen können, denn ich fand im Gebüsch den leeren, halb zerfetzten Pizzakarton und die Spur führte eindeutig zu Rufus. Der Pizzakarton wies deutlich erkennbare Bissspuren meines Hundes auf. Und dabei war ich mir so sicher gewesen, einen gut erzogenen Hund zu haben. Und dann so ein Benehmen.
Nur die Sache mit der fehlenden Wäsche konnte ich mir immer noch nicht erklären, denn was sollte Rufus mit mei-nen Dessous anfangen? Vielleicht hatte ja auch einfach der Wind meine Wäsche weggeweht und sie lag irgendwo im Gebüsch, dachte ich anfangs, aber fand sie auch nach intensiver Suche auf dem umliegenden Gelände nicht wieder. Aber die Sache mit den Gegenständen, die plötzlich an anderer Stelle standen, war nicht so einfach zu erklären, denn ich hatte meinen echt fanatischen Ordnungsfimmel. Da ich auch keine Putzfrau hatte und in den letzten Wochen niemand zu Besuch gekommen war, hatte ich dafür noch keine logische Erklärung gefunden.
Wahrscheinlich verfiel ich langsam einem Verfolgungs-wahn, was wohl auch kein Wunder gewesen wäre bei meinem Lebensstil. Immerhin lebte ich allein auf einem riesigen Anwesen mitten in der Wildnis der bayerischen Wälder und mein Geld verdiente ich mit dem Schreiben von Kriminalromanen. Meistens schrieb ich in der Nacht und besonderen Spaß machte es mir bei einem Gewitter. Da war es dann so richtig schön gruselig und somit eben genau die richtige Stimmung dafür. Dabei war ich von Natur aus eigentlich total schreckhaft und ängstlich. Wenn ich mir einen Horrorfilm angesehen hatte, sah ich danach erst einmal hinter jeder Ecke eine schwarze Gestalt, die mich umbringen wollte. Seit ich Rufus hatte, fühlte ich mich etwas besser, denn ich hoffte doch, dass er als ausgebildeter Wachhund eine schwarze Gestalt im Haus melden würde, jedenfalls wenn diese nicht gerade zufällig Salamipizza für ihn mitgebracht hatte. Also wahrscheinlich hatte ich es mit meiner Arbeit übertrieben und die merkwürdigen Dinge, die passiert waren, ließen sich ganz einfach erklären. Den Verbleib der Vorbesitzerin dieses Hauses zu klären, würde wohl meine nächste große Aufgabe sein, und sobald ich mit ihr persönlich sprechen konnte, würde ich wieder beruhigt und ohne Angst hier wohnen können. Sie würde ihre Holztruhe von mir zurückbekommen und ich keinen weiteren Gedanken an unheimliche fremde Gestalten, die in meiner Wohlfühloase ihr Unwesen trieben, mehr verschwenden müssen. Das war der Plan. Diesen in die Tat umzusetzen, sollte eine wahre Herkulesaufgabe werden.

Die nächsten Tage verliefen ereignislos und ich war beinahe erleichtert. Jedoch hatte ich mich schon in den letzten Wochen, besonders wenn ich draußen auf der Terrasse saß, irgendwie beobachtet gefühlt. Ich hatte niemanden gesehen, aber ich fühlte die Anwesenheit einer fremden Person. Eine meiner Freundinnen meinte, dieses Gefühl hätte mit meinem Hang zur Esoterik und meiner Vorliebe für Gruselgeschichten zu tun. Sie meinte, ich sollte einfach wieder nach München ziehen und schon wären alle meine Probleme gelöst. Annika verstand absolut nicht, weshalb ich dieses Leben in der Einsamkeit einem tollen Leben in der Großstadt vorzog, aber sie war halt nicht wie ich. Die Großstadt hatte ich viele Jahre lang gehabt und sie hatte mich krank gemacht. Ich liebte diese Idylle hier draußen und vor allem meinen kleinen Privatzoo.
Das Einzige, was mir hier nicht so ganz gefiel, war mein Nachbar Clemens Richter, der mich ständig mit irgendwelchen Merkwürdigkeiten belästigte. Zum Beispiel hatte er mir neulich empfohlen, mir eine Waffe zuzulegen, denn eine hilflose Frau ganz alleine hier draußen … Also, das ginge nun wirklich nicht! Natürlich bot er sich gleich an, mir beim Kauf der richtigen Waffe behilflich zu sein und dann Schützenhilfe in Form von Unterricht zu leisten. Der nächste Schritt wäre dann der Eintritt in den Schützenverein, um legal den Waffenschein zu erhalten, wie er mir erklärte. Jeden Sonntagnachmittag träfe sich der Verein und vorher könne man ja gemeinsam in die Kirche und anschließend zum Mittagessen gehen. Während dieser Kerl da so ungeniert meine Sonntage verplante, dachte ich nur: Hat der ein Glück, dass ich die besagte Waffe noch nicht erworben habe.
Anscheinend konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, wie ich meine Sonntage vorzugsweise verbrachte. Meistens machte ich es mir Samstagnacht so richtig gemütlich und schrieb fast bis zum Sonnenaufgang bei Kaminfeuer und Kerzenschein an meinen Romanen. Vermutlich stand Clemens Richter bereits wieder auf, wenn ich dann erst zu Bett ging. Für gewöhnlich wurde ich dann gegen Mittag wach und während ich meine erste Tasse Kaffee im Bett genoss, nahm mein netter Herr Nachbar vermutlich bereits sein Mittagessen ein. Dann gab es einen schönen Spaziergang mit Rufus im Wald und anschließend einen wunderbaren Mittagsschlaf. Wo also sollte da noch Zeit für Kirche oder den Schützenverein bleiben?
Mein Herr Nachbar bemerkte dann doch noch, dass er wohl seine Sonntage weiterhin alleine verbringen würde, und verabschiedete sich enttäuscht. Aber ich war mir sicher, dass er mich heimlich beobachtete. Sein Haus stand zwar etwas entfernt von meinem, aber man konnte trotzdem meinen Hof und die Terrasse einsehen. Ich plante jedoch schon eine kleine Umgestaltung und dann würde sich dieses Problem lösen. Vielleicht war er ja auch sauer auf mich, weil ich nicht so wollte, wie er es plante, und deshalb spielte er mir vielleicht aus Rache diese Streiche. Es hätte mich auch nicht gewundert, wenn sich meine fehlenden Dessous nun in seinem Haus befunden hätten. Am liebsten wäre ich bei ihm eingebrochen und hätte danach gesucht, aber das wäre wohl dann doch etwas zu weit gegangen und die Peinlichkeit, wenn ich unrecht gehabt hätte, wäre einfach zu groß gewesen. Dann hätte ich sofort erneut umziehen müssen und das wollte ich auf keinen Fall riskieren. Also verzichtete ich lieber weiterhin auf meine Dessous und trug eben die ohnehin bequemere Baumwollunterwäsche.

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Textprobe: Kathrin Hölzle

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