Leseprobe "Redric" von Jenny Rubus
Taschenbuch, ca. 390 Seiten, ISBN: 978-3-96050160-2
1
»Lynx« ist lateinisch und bedeutet »Luchs«.
Warum ich das erwähne? Weil ich Angst habe, es zu vergessen. Und weil ich diesen Satz heute Abend vermutlich sehr oft sagen werde.
Skeptisch blicke ich auf den Stapel Jacken, der so groß ist wie ich und der mit ziemlicher Sicherheit einstürzen wird, wenn ich gleich meine dünne Windjacke dazulege.
Dann wird alles schwarz.
Meine Knie geben beinahe nach, als etwas Schweres mich zu Boden zu drücken droht.
Ohnmacht, schießt es mir durch den Kopf.
Doch das ist es nicht, obwohl meinem Körper gerade sehr danach zumute ist. Weil es mir zumindest den heutigen Abend ersparen würde.
Meine Jacke wird mir aus der Hand gerissen.
»Wo warst du so lange?«, ruft eine vertraute Stimme über das dumpfe Pochen von Musik hinweg.
Nein, definitiv keine Ohnmacht.
»Al!«, nuschele ich in die schwarze Haarpracht, die mir die Sicht nimmt, weil meine Freundin Alice sich mir gerade wie ein Mehlsack in die Arme geworfen hat. »Sorry, ich musste noch mit Bob raus. Meine Eltern sind doch heute auf diesem Wohltätigkeitsball der Ärztekammer.«
Sie löst sich und verdreht die blauen Augen – das Einzige an ihr, das nicht schwarz oder blass ist.
»Kann dein Dackel nicht alleine kacken gehen? Ich hab dir schon immer gesagt: Holt euch lieber ’ne Katze, die gehen wenigstens aufs Katzenklo«, erklärt sie mir flapsig und bückt sich, um meine Jacke wieder aufzuheben. »Komm jetzt, das Büffet soll in ’ner Stunde aufgebaut sein und wir haben noch nicht mal das Fleisch angebraten!«
Während Alice meine Jacke ganz oben auf den Klamottenstapel der Gäste schleudert und ungerührt beobachtet, wie der ganze Turm gefährlich schwankt, betrachte ich ihr Outfit. Bestimmt hat sie wieder den ganzen Tag im Bad verbracht. Schließlich kostet es viel Zeit, sich jeden einzelnen Zentimeter Haut leichenweiß zu pudern. Und ein Outfit zusammenzustellen, das a) komplett schwarz ist, b) sich so perfekt um ihre schlanke Figur schmiegt, dass man denken könnte, jemand hätte es eigens für sie geschneidert und c) so absolut gothic ist wie alles, was Alice seit zweieinhalb Jahren trägt. Dabei sähe sie auch gut aus, wenn sie Löcher für Arme und Beine in eine Mülltüte schneiden und sich die überziehen würde.
»Bleib stehen«, befiehlt sie dem Jackenhaufen und breitet die Arme aus, um sich im Notfall todesmutig in die Sturzbahn zu werfen.
»Ähm, Al?«, hauche ich unbehaglich. »Sind denn … sehr viele da?«
Sie lässt die Arme sinken und fünf oder sechs schwarze Reifen klimpern gegen ihre Handgelenke. »Das hast du grad nicht wirklich gefragt, oder?«
»Na ja, ich hatte gehofft, dass …«
Alice lässt ein sarkastisches Lachen hören. Die Art Lachen, die eher nach Schnauben klingt. Oder nach verstopfter Nase. Dann weist sie wieder auf den Jackenstapel. »Die gehören nicht alle Tina.«
»Ist ja gut.« Ich atme tief durch und denke an einen dunklen Strand auf Lanzarote – ein Ort aus einem Bildband bei uns zuhause, mein persönlicher Panik-Zufluchtsort. Dann zupfe ich nervös mein graues Long-Shirt zurecht und frage leise: »Wie viele circa?«
Alice schaut an mir vorbei, als zähle sie tatsächlich die Jacken. »Viele. Weiß nicht. Hundertfünfzig?«
Hundertfü… Eine brennende Hitze steigt in meiner Brust empor und droht, mir den Hals zu verbrennen. Dann taumele ich rückwärts gegen die hellgelbe Wand und presse die Handflächen gegen den kühlen Putz. Hundertfünfzig Leute. Abzüglich dreißig bis vierzig, die ich kenne, blieben immer noch über hundert fremde Menschen. Über hundert Menschen, denen ich meinen üblichen Satz sagen werde. Lynx ist lateinisch und bedeutet »Luchs«.
Nein, ich lerne keine Fremdsprache. Ich habe überhaupt kein Latein in der Schule. Ich will auch nicht klugscheißen oder andere Leute mit uninteressanten Fakten nerven, die ich irgendwann mal im Internet gelesen habe.
Ich heiße ganz einfach so: Lynx. Oder – für die alten Römer – Luchs.
»Komm schon, du wirst es überleben«, sagt Alice zuversichtlich und streckt mir ihre Hand entgegen, die in einem schwarzen Handschuh steckt, der ihr bis über den Ellbogen reicht. Wieder klimpern die Armreifen nach vorne.
Ich starre auf ihre Finger, schließe kurz die Augen, öffne sie wieder. Warmer Sand unter meinen nackten Füßen, Sonnenstrahlen, Meeresrauschen …
Leider ist alles, was ich in diesem Moment höre, das Rauschen der hundertfünfzig Stimmen aus den anderen Räumen, das sich mit dem gleichmäßigen Wummern von Musik mischt.
»Boah, Lynx, es ist ’ne Party! Da sind nun mal viele Menschen!«, keift Alice, als sie meinen Blick bemerkt. »Du wirst jetzt da reingehen, wie du es schon eine Million Mal getan hast. Tu nicht so, als wärst du noch nie hier gewesen.«
»Ja, aber die eine Million anderen Male waren da keine hundertfünfzig Leute drin.«
»Natürlich nicht. Normalerweise ist da ja auch keine Party!« Alice verdreht abermals die Augen. »Keiner da drin wird sich für dich interessieren!«
»Und … wenn die mich ansprechen? Wer sind die denn überhaupt alle? Kennen wir so viele Leute?«
Alice seufzt und jetzt scheint sie diejenige zu sein, die sich in Gedanken an einen einsamen Sandstrand versetzt. »In unserem Jahrgang sind siebzig Leute, dann der Jahrgang drüber und halt noch ein paar Begleitungen. Es sind echt fast alle gekommen. Ich find’s so geil!«
»Ja. Du. Du hast ja auch keine soziale Phobie.«
»Och ja, nun reiß dich mal zusammen! Bei dir gibt’s doch eh nix, wovor du keine Angst hast! Hast du auch ’ne Jackenstapeleinsturzphobie?«, fragt sie, als der Haufen hinter uns mit einem Rauschen umkippt und die Kommode, die Schuhablage und eine Ficus-Pflanze unter buntem Stoffgewirr verschüttet.
»Hab ich gerade ergänzt«, gebe ich zu und helfe Alice, die Jacken wieder aufzusammeln, um einen hoffentlich stabileren neuen Turm zu errichten.
Das ist einer der Gründe, warum ich kein Luchs sein muss, um mich von anderen zu unterscheiden.
Die Angst.
»Ich habe nicht vor allem Angst«, gebe ich mürrisch zurück. »Spinnen find ich gar nicht so schlimm.« Das stimmt sogar. Und Alice weiß das natürlich. Schließlich bringe ich immer die Spinnen, wenn ich meine Probleme beschönigen will.
Probleme. Ein angenehm harmloses Wort. »Multiple Phobien« lautet der Fachbegriff.
Ich bin schon immer ängstlich gewesen. Während meine Kindergartenfreunde freihändig auf Klettergerüsten herumturnten, lernte ich, dass Sandförmchen scharfe Kanten aufweisen, an denen man sich – im dümmsten Fall – die Pulsadern aufschlitzen könnte. Das Bauen von Sandburgen war damit potenziell gefährlich, also widmete ich mich harmloseren Freizeitbeschäftigungen. Im Gras zu sitzen zum Beispiel. Oder Tierbilder auszumalen. Ich konnte mich auch nie für Sport begeistern. Turnen – ich könnte mir etwas brechen. Reiten – ich könnte vom Pferd fallen und mir was brechen. Ballett – ich könnte mir was brechen. Karate – ich könnte jemand anderem etwas brechen.
Damals kam ich noch damit klar, ich war einfach vorsichtiger als viele andere Kinder. Leider wurde es mit Beginn der Grundschule schlagartig schlimmer.
Als ich zehn Jahre alt war, stellte meine Mutter mich einer Psychotherapeutin vor. Und ich bin bis heute in Behandlung. Konfrontationstherapie, Antidepressiva, von denen ich nur Schlafstörungen bekomme, Hypnose und so weiter – sie hat alles an mir ausprobiert. Wirklich geholfen hat bisher nichts.
Aber es ist ja nicht so, dass ich kein glücklicher Mensch bin. Im Gegenteil. Für gewöhnlich bin ich sogar sehr fröhlich. Eben nur nicht in Situationen wie jetzt gerade.
Mit Menschen und so.
Alice schaut kurz auf.
»Immer wieder ein Rätsel. Wie kann man bitte keine Angst vor Spinnen haben?« Ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, betrachtet sie unser Werk. Der neue Jackenhaufen wirkt deutlich einsturzsicherer. »Können wir jetzt endlich reingehen?«
Übrigens sieht sie einer Spinne gerade nicht unähnlich. Zumindest erweckt die Kombination aus schwarzem Netzoberteil und scharfem Blick den Eindruck, als wolle sie mich gleich auffressen.
Also schön. Ich habe es unserer gemeinsamen Freundin Tina versprochen. Ich habe mich seit Wochen mental darauf vorbereitet, mich in die unauffälligsten Klamotten geworfen, die ich besitze. Meine Haare sind mittelblond und besitzen damit die unscheinbarste Farbe, die man tragen kann. Mein Gesicht ist allgemein ziemlich durchschnittlich, sodass die Chance groß ist, dass niemand Notiz von mir nimmt.
Eigentlich kann nichts schief gehen.
Wenn nur dieses Bauchdrücken nicht wäre. Und diese Vorahnung. Eine Ahnung, dass irgendwas passieren wird. Etwas, das mein Leben verändern wird.
Ich hasse Veränderungen. Und Vorahnungen.
Schuld ist sicher nur meine Soziophobie.
Aber trotzdem …
Mit einem Lächeln, von dem ich nicht weiß, ob es zuversichtlich oder schadenfroh sein soll, zieht Alice mich mitten ins Party-Getümmel.
In den nächsten drei Minuten werde ich gefühlt zehntausend Leuten vorgestellt, die mich allesamt aus der Schule kennen, die ich meiner Meinung nach aber noch nie gesehen habe. Ich laufe viermal tiefrot an und muss etwa zwanzigmal »Was?« über den dröhnenden Beat von House-Musik brüllen. Dementsprechend komme ich auch gar nicht in die Verlegenheit, meinen Namen erklären zu müssen. Würde eh keiner verstehen.
Während Alice mich zwischen Couch und Schrankwand Richtung Küche zieht, benötige ich meine gesamte Konzentration, um nicht umzudrehen und panisch aus dem Raum zu stürmen.
Das Wohnzimmer im Haus von Tinas Familie ist geräumig und modern eingerichtet, was ich weiß, ohne genauer hinzusehen, weil das hier praktisch mein zweites Zuhause ist. Ich weiß, dass um den kleinen Glastisch drei karminrote Sessel und eine Couch stehen, dass über dem Flatscreen normalerweise keine Decke hängt und dass acht der Kissen auf dem Fußboden eigentlich ins Gästezimmer meiner Eltern gehören. Jetzt lümmeln darauf Mädchen und Jungen aus den Klassen elf und zwölf des Kilian-Heyder-Gymnasiums herum, lachen, wippen im Takt der Musik und trinken bunte Flüssigkeiten aus langstieligen Gläsern. Die meisten Möbelstücke und auch der gelbe Hochflorteppich sind kaum zu erkennen unter langen Beinen, Kleidern und Taschen. Die zweiflügelige Glastür zur Terrasse steht offen.
Tinas Eltern sind selbstständige Künstler, die ein Atelier am Stadtrand besitzen und einen Teil des Jahres irgendwo im Ausland verbringen, um sich Inspiration zu holen und ihre Bilder zu verkaufen. Tina und ihr achtzehnjähriger Bruder Marco haben das Haus dann für sich. »Jugendliche müssen ihre Freiheiten genießen«, betonen ihre Eltern immer. Nun ja. Tinas Augen glänzen auf jeden Fall sehr freiheitsliebend, als sie in diesem Moment aus der Küche stürmt. Chaotisch und überdreht wie immer.
»Oh, hi, Dean! Lara, schön, dass du auch hier bist! Jenna, pass bitte mit den Ballerinenfiguren auf, meine Mutter liebt diese Teile, und wenn die kaputtgehen, muss ich mein Taschengeld für die nächsten fünf Jahre sparen, um neue zu kaufen! Lynx, du musst beim Salat helfen, ich krieg diese Dinger einfach nicht ordentlich gewürfelt, diese … Wie heißen die noch gleich? Charlotten.«
»Schalotten«, korrigiere ich automatisch und spanne den Rücken an, als Tina mich mit ausgebreiteten Armen in Empfang nimmt, in der einen Hand eine halbe Paprika, in der anderen einen Topflappen.
»Wie auch immer. Du bist spät dran, wir können jede Hilfe gebrauchen! Marco musste noch mal in den Baumarkt, weil die Kohle für den Grill alle ist und der Dödel das nicht früher gemerkt hat! Hab`s ja nicht oft genug betont, echt!«
Ich taumele kurz, als Tina sich wieder von mir löst. Schuld ist nicht die süßliche Parfümwolke, die durchaus das Potenzial hat, jemanden in Trance zu versetzen, sondern die Tatsache, dass meine Freundin die Ausmaße eines kleinen Sumoringers besitzt. Eines Sumoringers mit neonpinken Leggins und einem Haarband, das man wahrscheinlich noch drei Straßen weiter leuchten sieht.
»Was hast du da an?«, fragt Alice fassungslos und deutet auf die kleinen weißen Kringel von Tinas Oberteil. »Einen Schlafanzug?«
Tina zieht eine Schnute und tut so, als wolle sie Alice mit der halben Paprika bewerfen.
»Halt die Klappe, Grufti«, faucht sie zurück und dreht sich kringelig-pink einmal um sich selbst. »Das hier ist voll angesagt, hat man dir das auf deinem Friedhof noch nicht gesagt?«
»Nee, sorry, wir kommunizieren leider nicht so oft mit Clownfischen«, gibt Alice schlagfertig zurück.
Ich muss liebevoll lächeln. Nein, die beiden hassen sich nicht, im Gegenteil. Ich bin noch nie zwei Menschen begegnet, die sich so abgöttisch lieben und sich trotzdem schon ihr Leben lang derart hässliche Dinge an den Kopf knallen.
»Ich hoff, du hast auch noch ordentliche Sachen da und nicht nur dieses Weibergesöff«, stichelt Alice weiter und weist auf ein Mädchen mit gestylten wasserstoffblonden Haaren und so viel Schmuck an Armen und Hals, dass ich meine, sie müsste von der Couch kippen, auf der sie sitzt. In einer Hand hält sie ein Glas mit quietschgrüner Flüssigkeit.
In Ermangelung freier Hände fegt Tina mit dem Unterarm ein paar lange schwarze Locken nach hinten, die so explosiv und ungezügelt sind wie alles an ihr.
»Marco hat Wodka besorgt. Kannst ihn gern pur trinken, wenn du drauf stehst.«
»Später auf jeden Fall, Schraube«, erwidert Alice und ich zweifele keine Sekunde an ihren Worten.
»Schraube« ist übrigens Tinas Spitzname und nicht etwa abgeleitet von ihrem Nachnamen »Schaub«, wie sie jedem weismachen will. Alice stellte damals bei unserer ersten Begegnung schlicht und ergreifend fest, dass Tina eine Schraube locker hat, und erhob das Wort kurzerhand zum Spitznamen.
»Ich hab Caro noch gar nicht gesehen, ist sie schon da?«, frage ich, bevor die beiden sich die Augen auskratzen.
»Ach, hör auf«, winkt Tina ab. »Muss ihrem Bruder noch bei den Hausaufgaben helfen und kommt später. Hallo, es ist Freitag! Wer macht denn bitte heute Hausaufgaben? Also echt!«
Ich möchte die beiden gerade darauf hinweisen, dass auch ich vorhin noch die Vokabeln geübt habe, die wir bis Dienstag auswendig können müssen.
Doch ich bringe kein Wort mehr heraus.
Das Drücken in meinem Bauch hat sich in ein Reißen verwandelt, wie mir in diesem Moment schlagartig bewusst wird. Ein schmerzhaftes, brennendes Reißen.
Etwas stimmt nicht.
Verdammte Intuition. Verdammte Phobien.
Meine Unterlippe beginnt zu zittern. Ich starre auf Alice, auf ihre schwarzen Haare, die früher strohblond waren, bevor sie zu färben begonnen hat. Ihr Blick ist eiskalt und starr auf einen Punkt hinter mir gerichtet. Ebenso Tinas.
Sämtliche Gespräche im Raum verstummen.
Die Welt dreht sich nicht mehr.
Es gibt nicht viele Ursachen, die Tina diesen Blick entlocken.
Noch stehe ich mit dem Rücken zur Tür und kann nur raten. Vielleicht ist ihr Ex-Freund Sven erschienen. Tina hat ihn extra nicht eingeladen, aber wir sind nicht sicher, ob er sich daran halten wird. Er liebt Tina noch immer abgöttisch.
Vielleicht bahnt sich auch irgendeine Katastrophe an. Ein Erdbeben zum Beispiel, durch das bereits die vordere Hälfte des Hauses eingestürzt ist. Eventuell ist auch einfach nur das Bier alle.
Niemand im Raum bricht in Tränen aus. Kein Poltern deutet darauf hin, dass wir gleich von der einstürzenden Decke zerquetscht werden. Doch irgendetwas passiert hinter mir. Etwas, das die Unterhaltungen von hündertfünfzig Gästen mit einem Schlag zum Verstummen bringt. Etwas, das dafür sorgt, dass sich die dröhnende Musik um ein Vielfaches zu verstärken scheint, weil es keine anderen Geräusche im Raum mehr gibt.
Meiner lähmenden Angst zum Trotz drehe ich mich langsam um.
Eine weitere Person hat soeben die Party betreten. Der Grund für die plötzliche eisige Stimmung.
Aber es ist nicht Sven.
Die Person, die dort unschlüssig im Türrahmen steht und ein Bein leicht angewinkelt hat, sodass er den Boden nur mit der Zehenspitze berührt, ist viel größer als Tinas Ex, wenn auch ähnlich schlaksig. Genau lässt sich das nicht sagen, er trägt nämlich einen dunklen Kapuzenpullover, der ihm mindestens vier Nummern zu groß ist und sein Gesicht und seine Figur fast komplett verbirgt.
Das dumpfe Ziehen in meinem Magen verstärkt sich. Es ist diese Art von Ziehen, als hätte man sehr großen Hunger, während zeitgleich jeder Gedanke an Essen Übelkeit erregt. Ich kenne dieses Gefühl. Oft tritt es kurz vor Panikattacken auf. Warum starrt nicht nur Tina, sondern ausnahmslos jeder im Raum zur Tür, als wäre das dort ein Amokläufer mit Bombengürtel? Warum dreht Alice plötzlich die Musik leiser? Wer ist das überhaupt? Und warum halte ich die Luft an, als der Neuankömmling seine Kapuze ein Stück nach hinten streicht, ohne sie ganz abzunehmen?
Fast rechne ich mich irgendetwas Außergewöhnlichem. Einem entstellten Gesicht oder einer gruseligen Clownsmaske.
Dann bricht Tina endlich die Stille: »Redric! Wie … äh … Schön, dass du auch hier bist.«
Ich kenne meine Freundin lange genug, um rauszuhören, dass sie am liebsten einen Besen nehmen würde, um diesen Gast wieder nach draußen zu kehren. Ich verstehe nur noch nicht, wieso. Im Gegensatz zu allen anderen Gästen offensichtlich.
Das Mädchen mit zu viel Schmuck lässt ein Schnauben hören und wirft ihre Locken nach hinten.
Plötzlich wirkt es, als hätte Tina ein Kommando gegeben. Ein Kommando für alle im Raum, hinter hervorgehaltener Hand zu tuscheln, den Kopf zum Nachbarn zu neigen und resignierte Blicke auf Redric zu werfen.
Wer zur Hölle ist dieser Typ? Bin ich die Einzige hier drin, die ihn nicht kennt?
Ich betrachte ihn noch einmal genauer. Er hat kein entstelltes Gesicht und trägt selbstverständlich auch keine Maske. Redric ist ein blasser Junge mit schmalem Gesicht und dunkelblonden Haaren, der mir in der Schule vielleicht schon mal begegnet ist, vielleicht aber auch nicht. Ich habe ein miserables Personengedächtnis.
Auf den ersten Blick wirkt er unscheinbar, ein ganz gewöhnlicher junger Mann in einem übergroßen Pullover, wie aktuell modern. Gut, vielleicht nicht ganz so übertrieben groß wie bei ihm, aber okay. Wenn das eben sein Style ist.
Doch je länger ich ihn betrachte, desto stärker wird das Ziehen in meinem Bauch und umso mehr Details fallen mir auf, die mich stutzig machen.
Da ist ein Loch in Redrics Jeans, genau überm linken Knie, nicht größer als eine Kastanie, durch das seine Haut schimmert. Sein Pullover ist definitiv nicht gebügelt und nach dem Trocknen offensichtlich für längere Zeit zusammengeknüllt worden. Außerdem gibt es einen Aufnäher an seinem rechten Unterarm, der vermutlich ein Loch verbergen soll. Er fällt aber kaum auf zwischen all den Falten, die der viel zu lange Ärmel wirft.
Das Markanteste ist jedoch nicht der demolierte Zustand seiner Kleidung, mit der kein normaler Jugendlicher auf einer Party von Gleichaltrigen erscheinen würde. Was mich wirklich in seinen Bann zieht – auf negative Art und Weise – ist Redrics Blick.
Er mag vielleicht siebzehn Jahre alt sein, plus minus ein Jahr. Aber obwohl ich einen ganzen Raum weit von ihm entfernt stehe, sorgt der Ausdruck in seinen dunklen Augen dafür, dass mir Gänsehaut über die Arme wandert. Das da ist nicht der Blick eines schulpflichtigen Jugendlichen. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber ich bin überzeugt, dass diese Augen schon viel mehr gesehen haben, als das in unserem Alter der Fall sein sollte. Redric wirkt erschöpft. Müde. Wie ein Hundertjähriger beim Erinnern an den Zweiten Weltkrieg.
Dann verlagert er sein Gewicht aufs andere Bein, lässt den Blick scheu durch den Raum huschen und ringt sich ein »Hi« ab.
Augenblicklich wird das Gemurmel der anderen lauter. Irgendjemand kichert, ein anderer zeigt mit dem Finger auf Redric, der sich sichtlich unwohl fühlt.
Genau so habe ich mir mein Erscheinen auf dieser Party seit Wochen ausgemalt: Ich trete in den Raum und alle verstummen, verschlucken sich und kichern. Ein Horror, der mir zum Glück erspart geblieben ist. Ihm nicht.
Ich suche Redrics Blick, aber er sieht mich nicht an. Wahrscheinlich hat er mich in diesem Durcheinander aus Oberstufenschülern überhaupt nicht wahrgenommen. Wieso auch? Er kennt mich ja nicht einmal.
Irgendetwas bewegt sein Anblick bei mir. Was, wenn er ist wie ich? Wenn er Angst hat? Angst vor allem Möglichen. Multiple Phobien.
Noch ganz vertieft in den Anblick des rätselhaften Neuankömmlings, dauert es einen Moment, bis ich das Rütteln an meinem Ellbogen bemerke. Alice stößt mich an. Dann hakt sie mich unter und zerrt mich hinter Tina her in die Küche.
Ich komme mir vor, als würde mich jemand aus stürmischer See an Land ziehen. Der Druck der immer noch viel zu lauten Musik im Wohnzimmer macht mich halb taub, als wir in die halbwegs stille Küche treten. Halbwegs deshalb, weil man natürlich auch noch hier drinnen die Stimmen der anderen hört, die jetzt wieder lachen und plappern, als wäre nie etwas passiert. Als habe dieser Junge niemals alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Bevor Alice die Tür hinter uns schließt, sehe ich gerade noch, wie Redric sich an der Wand entlang zu einem Stuhl in der Ecke schiebt.
»Das glaub ich jetzt einfach nicht«, murmelt Tina, als bestünde wirklich die Gefahr, dass jemand sie durch die geschlossene Tür hindurch verstehen kann. »Ausgerechnet der! Echt jetzt?«
»Glaubst du, jemand hat den mitgebracht?«, fragt Alice und nimmt eine Gabel aus dem Besteckkasten, um wahllos in einen der fertigen Salate zu piksen. Die Küche ist ein einziges Schlachtfeld. Ich sehe Nudelsalate, Gemüsesalate, Taco-Salate, Salate, die ich nicht deuten kann (und mit Sicherheit nicht probieren werde), Fingerfood und so weiter. Schüsseln stapeln sich in der Spüle, auf der Arbeitsplatte, selbst am Fußboden. Außerdem sehe ich kiloweise rohes Fleisch auf dem Küchentisch, das wahrscheinlich darauf wartet, dass jemand es breitklopft und brät. Und natürlich Müll. Ein nicht enden wollendes Chaos aus Tüten, Verpackungen und Küchenrollen. Haben Tina und Alice hier Essen vorbereitet oder sich eine Lebensmittelschlacht geliefert?
Ganz automatisch hebe ich die Hand, um eine leere Fischverpackung in den Abfalleimer zu befördern. Unordnung ist irgendwie … unheimlich. Zu viele Dinge auf zu engem Raum. Das weckt meine Klaustrophobie. Und dann ist da ja auch noch die Gefahr von Salmonellen, wenn diese Packungen stundenlang in der Wärme liegen. Fürchterlich.
Doch ich lasse die Packung zurück auf den Küchenschrank fallen. Etwas anderes beschäftigt mich gerade mehr als meine Ängste. Nicht oft der Fall.
»Sagt mal, wer ist dieser Redric?«
Alice spuckt eine Nudel zurück auf ihre Gabel.
»Du kennst den nicht?«, fragt Tina erschüttert und klopft Alice auf den Rücken, während diese Nudelkrümel in ihre eigene Hand hustet.
»Nein, muss ich?«
»Wie kann man Redric nicht kennen?«
»Das ist … weil du nie … mit auf den Schulhof gehst«, keucht Alice zwischen weiteren Hustenanfällen.
Nein, gehe ich nicht. Schon seit Jahren nicht mehr. Viel zu gefährlich. Entweder fliegen draußen Schneebälle oder man holt sich einen Sonnenbrand oder Lungenkrebs, weil der Rauch aus der Raucherecke über den gesamten Innenhof zieht.
»Ist der in unserem Jahrgang?«, hake ich nach und gehe zum Küchenschrank, um mir zwei Einmalhandschuhe herauszunehmen.
Alice zieht sich an der Anrichte entlang zu einer Flasche Wasser und öffnet sie röchelnd. Während ich abwarte, bis sie die halbe Flasche in einem Zug geleert hat, widme ich mich den Schweineschnitzeln auf dem Tisch. Tina scheinen die Buffet-Vorbereitungen gerade herzlich egal zu sein. Sie nestelt gedankenverloren an ihrem pinken Haarband und ist für ihre Verhältnisse extrem still.
»Redric geht in Svens Klasse, ein Jahr über uns. Er ist achtzehn«, erklärt Alice, als sie wieder halbwegs Luft bekommt. »Der Typ ist voll aggro.«
»Weil …?«
»Das ist so ’n Psycho. Eigentlich warten alle nur drauf, dass der irgendwann mal mit ’ner Knarre in die Schule kommt und um sich ballert.«
Ich schaue kurz von den Schnitzeln auf.
»Warum?«
»Na, weil … Also, die Details kenn ich jetzt auch nicht so wirklich, da musst du mal Sven fragen …« Und mit einem Seitenblick auf Tina ergänzt Alice: »Oder halt egal wen aus der zwölften. Auf jeden Fall will niemand was mit dem zu tun haben. Ich meine, guck doch mal, wie der schon glotzt. Total gruselig. Als wenn er dich gleich abstechen will. Und dann spielt der wohl immer diese Ego-Shooter.«
Jetzt kann ich mir einen herablassenden Blick aber wirklich nicht verkneifen.
»Ernsthaft? Weil er Ego-Shooter spielt, ist er ein Massenmörder? Das ist doch so was von überholt. Caros Bruder zockt das Zeug auch. Und der rettet sogar verletzte Fliegen aus Regentonnen.«
Alice nimmt einen weiteren Schluck Wasser. »Caros Bruder ist ja aber auch nur ein harmloser Nerd. Bei Redric soll mehr dahinterstecken. Angeblich hat sein Vater Selbstmord begangen und seine Mutter einen an der Waffel.«
Selbstmord. Sein Vater. Mein Mitleid wächst.
»Das ist der Grund, warum ihr in verurteilt?« Ich schlage heftiger auf das Fleisch als nötig.
Tina beäugt mich skeptisch.
»Du musst jetzt kein Mitleid mit dem haben«, schaltet sie sich wieder ins Gespräch ein. »Der ist nicht wie du, falls du das denkst. Echt nicht!«
Bei ihren Worten zucke ich zusammen und hätte mich beinahe auf den Mittelfinger gefleischklopft. Manchmal bin ich überzeugt, dass man gegenseitig Gedanken lesen lernt, wenn man genug Zeit miteinander verbringt. Auch etwas, das ich ein bisschen verstörend finde.
»Aber stellt euch doch mal vor, ihr kommt wohin und alle gucken so. Das ist doch der Horror!«
Tina zuckt mit den Schultern und nimmt ein Messer aus dem Block, um das breitgeklopfte Fleisch in kleine Stücke zu schneiden. Ohne Handschuhe. Sie hat definitiv keine Angst vor Salmonellen und Brechdurchfall.
»Typen wie der haben das halt verdient.«
Ich muss aufpassen, dass ich nicht vor Empörung den Fleischklopfer fallenlasse. Betont ruhig lege ich ihn neben das Schnitzel und komme mir dabei selbst ein wenig psychopathisch vor.
»Niemand hat so etwas verdient.«
Meine Freundinnen wechseln einen vielsagenden Blick.
»Der schon, glaub mir«, brummt Alice dann unbestimmt.
Ich starre auf meine Finger, die in dem Einmalhandschuh ganz weiß wirken und nach Gummi riechen. Egal, was mit diesem Redric ist, egal, was er verbrochen hat: In dem Augenblick, in dem die Party sich wegen seines Erscheinens in ein Stillleben verwandelt hat, konnte ich mit ihm fühlen. Und egal, was Alice und Tina sagen: Das hat kein Mensch verdient. Meine Meinung.
Wieder greife ich nach dem Klopfer und versuche, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Was mir allerdings nicht mehr so recht gelingen will. Zweimal erwische ich meine Finger und nach fünf Minuten hält Tina skeptisch einen Fleischlappen hoch, der die Stärke eines Stücks Pappe hat.
»Echt jetzt? Lynx, ich will Mini-Schnitzel machen, keine Briefmarken.«
»Sorry«, brumme ich und schüttele meine rechte Hand, weil mein Zeigefinger schmerzhaft pulsiert. Der wird blau. Oder schwarz, mal sehen.
Alice, die jetzt am Herd steht und Sonnenblumenkerne in einer kleinen Pfanne röstet, wirft mir einen prüfenden Blick zu.
»Du musst dir echt keine Gedanken um den machen. Wart mal ab, nach dem heutigen Abend weißt vielleicht auch du, warum ihn keiner leiden kann. Der hat halt ’nen Knall, aber ’nen echt fetten.«
Das beunruhigt mich wieder. Was, wenn er doch gefährlich ist? Schließlich ist das hier eine Menschenansammlung und er hat unter seinem Riesenpullover mehr als genug Platz für Messer, selbst gebaute Bomben oder was weiß ich.
»Der benimmt sich immer daneben«, meint Tina. »Hab ich mal gehört. Von irgendjemandem. John ist übrigens auch in Redrics Klasse.«
Ihr Gesicht nimmt einen verträumten Ausdruck an. Wir alle wissen, dass Muskelschönling John Tinas Schwarm ist. Allerdings wissen wir auch, dass John eher auf gertenschlanke Blondinen steht und insgeheim über Tina lästert. Aber wir wollen ihr die Schwärmereien lassen, also hat ihr das bisher niemand verraten.
»Ich frag mich ja echt, wie der auf die Idee kommt, hier aufzukreuzen«, meint Alice mürrisch. »Ich meine, war der schon mal auf ’ner Party?«
»Keine Ahnung. Kannst ihn ja fragen«, grinst Tina.
Alice wirft einen verbrannten Sonnenblumenkern in ihre Richtung.
»Hey, hör auf, die Küche einzusauen! Denk halt dran, wir müssen das morgen alles wieder putzen!«
Jetzt muss ich aber auch lachen.
»Schraube, ich glaub, dieser Sonnenblumenkern reißt es nicht raus!«
Nein, wirklich nicht. Wäre das hier kein Eigenheim, sondern eine Mietwohnung, würde der Vermieter Tinas Eltern wegen Verwahrlosung kündigen.
»Ach, sei leise! Hey, ich glaub, das war Marcos Wagen! Er hat die Grillkohle gebracht, es geht looos!« Und damit stürmt Tina aus der Küche und lässt Alice, das Küchenchaos und mich alleine.
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